Pop-Art mit Peitsche, von links nach rechts: John Cale, Warhols Assistent Gerard Malanga, Nico und Andy Warhol selbst.

Foto: Herve Gloaguen

The Velvet Underground veröffentlichten 1967 unter der Patronanz Andy Warhols ihr berühmtes Debüt mit der Abziehbildbanane.

Fotos: Warner, Universal, EMI

Das Jahr 1967 wird derzeit als jenes Jahr gefeiert, das in der Popkultur sowohl als ein Höhepunkt als auch ein früher Endpunkt angesehen wird. Während in diesen Monaten in Vietnam die Bomben fallen und im Nahen Osten der Sechstagekrieg tobt, es in Berlin wegen des Schah-Besuchs zu schweren Ausschreitungen kommt, deren mittelbare Folgen bezüglich der RAF man sich im deutschen Fernsehen ab Herbst 1967 auch in Farbe ansehen kann, erlebt in den USA der sogenannte Summer of Love der Hippiebewegung seinen Höhepunkt. Es gibt jede Menge Drogen, und Leute gehen auf Reisen, von denen manche nicht zurückkehren. Aber das muss man nicht extra betonen.

Beim Monterey Pop Festival Mitte Juni in Kalifornien erleben Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who und Otis Redding ihren kommerziellen Durchbruch. Das erste "Lustige Taschenbuch" mit Donald und Mickey erscheint. Der Walt-Disney-Film "Das Dschungelbuch" kommt in die Kinos – und damit es auch von der Theorie her etwas seriöser wird: Der französische Situationist Guy Debord veröffentlicht seine später auch für den Pop enorm einflussreiche Schrift "Die Gesellschaft des Spektakels".

Teenagersymphonien

Theoretisch wie praktisch geht es im Pop 1967 also ganz schön bunt zu. Die Beatles ernähren sich von lustigen Sachen aus dem Drugstore, werfen sich in verstrahlte Blasmusikuniformen und besingen die Geschicke von Wachtmeister Pfefferkorn und seiner Kombo der einsamen Herzen. "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" erscheint im Juni und läutet die Ära der Konzeptalben ein.

Währenddessen setzt Brian Wilson von den Beach Boys sein Opus magnum "Smile – Teenage Symphony to God" wortwörtlich in den Sand. Den lässt er sich in sein Wohnzimmer unter das Klavier schütten, um sich darin barfuß Inspiration für seine geplante musikalische "Aufarbeitung der Geschichte Amerikas" zu holen, in der auch die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft berücksichtigt werden sollen, etwa im Ballaballa-Song "Surf's Up".

Wilson bekommt beim Hören des "Sgt. Pepper"-Albums allerdings aufgrund dessen kompositorischer Qualitäten (die Texte können es nicht sein!) eine schwere Depression (oder einen kalten Truthahn – oder wie man das nennt) sowie eine langjährige Schreibblockade. Er hat damals ohnehin schon genug Probleme mit mindestens bewusstseinsverändernden Substanzen, die die sieben Zwetschken in alle Winde zerstreuen. Wilson wird erst fast 40 Jahre später dazu in der Lage sein, "Smile" in einer rekonstruierten Fassung als Soloalbum "Brian Wilson Presents Smile" fertigzustellen und zu veröffentlichen.

Während im afroamerikanischen Soul etwa Aretha Franklin 1967 auf ihrem Album "I Never Loved a Man the Way I Love You" auf politisches Bewusstsein und Selbstermächtigung setzt oder James Brown im später für den Hip-Hop bahnbrechenden Song "Cold Sweat" das Blues-Schema hinter sich lässt und den Grundstein für den Funk legt, legen es die Hörer aus der weißen Mittelschicht 1967 oft auch dezidiert eskapistisch an. Der Einfluss psychedelischer Drogen wird von ihnen nicht nur auf "Are You Experienced", dem Debüt von Jimi Hendrix, geschätzt. Auch der Kampf der Rolling Stones auf "Their Satanic Majesties Request" mit Clownskostümen, dem Weltall oder heiterem Satanismus wird goutiert.

Surrealistische Kissen

Grace Slick und Jefferson Airplane machen es sich auf ihrem "Surrealistic Pillow" bequem und sehen überall weiße Hasen herumhoppeln. Der ebenfalls noch in guter Form befindliche Jim Morrison prägt auf dem titellosen Debüt seiner Band The Doors das Konzept "Break On Through To the Other Side". Pink Floyd sind mit "The Piper at the Gates of Dawn" auf ihrem frühen künstlerischen Höhepunkt angelangt. Sänger Syd Barrett schlägt leider schon bald darauf den Weg des Brian Wilson ein und fristet die letzten Jahre seines Lebens im betreuten Wohnen.

Der härteste und langfristig zumindest ab Mitte der 1970er-Jahre bis heute greifende Einfluss für die Musik kommt allerdings von einer Band, deren Sänger und Hauptkomponist in einem Interview einmal sein handwerkliches Credo wie folgt definierte: "Ein Akkord ist eine feine Sache. Mit zwei Akkorden will man es vom Anspruch her wirklich wissen. Nimm drei Akkorde, und du stehst knietief im Jazz."

Der 1942 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geborene Lou Reed hat seine musikalische Karriere als Fließband-Songschreiber für das für Ein-Hit-Wunder bekannte Pickwick-Label unter anderem mit Doo-Wop-Songs begonnen. Mitte der 1960er-Jahre trifft er den klassisch an der Viola ausgebildeten walisischen Musiker John Cale, der unter anderem mit Tony Conrad, Terry Riley und La Monte Young entscheidend an der Entwicklung der Minimal Music beteiligt war.

Gemeinsam teilt man eine Liebe für repetitive, getragene, sehr, sehr laute Musik ohne allzu viel schmückendes Beiwerk und Akkordwechsel. Als The Velvet Underground wird man gemeinsam mit Schlagzeugerin Maureen Tucker und Gitarrist Sterling Morrison Teil von Andy Warhols Factory und der vom Pop-Art-Superstar inszenierten Multimediashow "Exploding Plastic Inevitable". Mit The Velvet Underground kehren nach den wilden Rock-'n'-Roll-Jahren im Schatten Elvis Presleys damals nicht nur die Sonnenbrillen und Lederjacken, sondern auch das Schwarz in allen Bedeutungsschattierungen in die Rockmusik zurück.

Begräbnisstimme

Zur Hochblüte der Hippiezeit bringt also das im Frühjahr 1967 erscheinende Debüt von The Velvet Underground und dem deutschen Supermodelvorläufer Nico mit seiner tiefen, emotionslosen, hart akzentuierten Begräbnisgesangsstimme auch das Böse und Dunkle in den Pop. Zu monoton dröhnender, rückkoppelnder Rockmusik geht es inhaltlich um harte Drogen, Prostitution, Sadomasochismus, sexuelle Hörigkeit und den Tod.

Richard Goldstein schreibt 1967 im "New York Magazine" über The Velvet Underground: "Sometimes they sing, sometimes they just stroke their instruments into a single, hour-long jam. Their sound is a savage series of atonal thrusts and electronic feedback. Their lyrics combine sado-masochistic frenzy with free-association imagery. The whole thing seems to be a product of a secret marriage between Bob Dylan and the Marquis de Sade. It takes a lot to laugh; it takes a train to cry."

Der als Produzent des Albums angeführte Andy Warhol steuert zur Musik definitiv nichts bei. Er zeichnet aber für das berühmte Cover mit der Abziehbildbanane ("Peel slowly and see"), die Finanzierung der Studioaufnahmen in New York und Hollywood und mit seinem symbolischen Kapital als etwaiges verkaufsförderndes Element verantwortlich.

Sinistre Songs wie "All Tomorrow's Parties", "I'm Waiting for the Man", "Venus in Furs", "Heroin" und "The Black Angel's Death Song" will zu dieser Zeit allerdings niemand hören. "Venus in Furs" vertont übrigens die Novelle "Venus im Pelz" des Altösterreichers Leopold von Sacher-Masoch von 1870.

Solokarrieren

Das Album erreicht als Spitzenplatz kurz Platz 182 der US-Albumcharts und verkauft nicht mehr als 30.000 Stück. Airplay im Radio gibt es für Pop mit giftiger Nadel, Dealern, Bezahlsex und Peitsche in der strengen Kammer sowieso nicht. Auch viele Plattengeschäfte weigern sich, derart sinistre Inhalte in ihren Regalen anzubieten. Diverse Zeitschriften lehnen Inserate für The Velvet Underground ab.

Lou Reed, der Literatur studiert hat, sich von William S. Burroughs, Allen Ginsberg und Hubert Selby Jr. beeinflusst sieht und deren literarische Themen musikalisch umsetzen will, ist aufgrund dieses Debakels konsterniert. Er beendet die Zusammenarbeit mit Warhol, wirft Nico aus der Band (diverse Eifersüchteleien spielen auch eine Rolle). Und Lou Reed macht obendrein John Cale zu seinem speziellen Lebensfeind.

Reed führt The Velvet Underground noch einige Jahre weiter und komponiert für die Band etwa den Jahrhundertsong "Pale Blue Eyes" und die frühe Punkschablone "White Light / White Heat". Beide Freundfeinde starten bald ebenso produktive, durchwirkte wie faszinierende Solokarrieren.

Kalter Krieg

Obwohl man sich später kurzfristig anlässlich des Todes von Andy Warhol für das 1990 veröffentlichte hübsche Duoalbum "Songs for Drella" sowie für eine möglicherweise der Rente geschuldete Reunion-Tour von The Velvet Underground 1993 wieder zusammenrauft und in New York offenbar jahrzehntelang im selben Haus in Manhattan wohnt, herrscht bis zum Tod Lou Reeds 2013 Kalter Krieg.

Außer John Cale, der bis heute aktiv ist und nun exklusiv in Europa am 26. Mai in Liverpool mit einer All-Star-Besetzung 50 Jahre The Velvet Underground & Nico sowie die Platte mit der Banane feiern wird, und Drummerin Maureen Tucker sind alle Gründungsmitglieder tot.

Der Einfluss aber, nicht nur in Bezug auf die Textthematiken, sondern auch der bis heute zeitlos/zeitgenössisch klingenden "Klangarchitektur", auf kommende Musikergenerationen ist eklatant. Der britische Soundkünstler, Produzent und Ambient-Music-Erfinder Brian Eno, der in den frühen 1970er-Jahren mit Bryan Ferry und Roxy Music für Furore sorgt, meint in einem Interview einmal sinngemäß, dass Velvet Underground von ihrem Debütalbum zwar damals nur 30.000 Stück verkauft haben mögen (heutzutage übrigens eine sagenhafte Zahl für derart radikale Produktionen). Allerdings habe jeder Einzelne der Käufer anschließend eine Band gegründet.

Nicht nur David Bowie profitiert von Lou Reed stilistisch. Für ihn produziert er zum Dank 1972 dessen einzigen Chartserfolg "Walk on the Wild Side". Auch Punkgevatter Iggy Pop und seine Abrissbirnenrocker The Stooges nutzen 1969 auf ihrem Debütalbum die Produktionskünste und die bei Velvet Underground entwickelten Soundvorstellungen John Cales. Von zahllosen Bands aus den späteren Genres Punk, Grunge, Indie, Noiserock, Shoegaze, Gothic, Tunichtgut-Rock und Mittelfingerpop einmal ganz abgesehen. (Christian Schachinger, 13.5.2017)