Portugiesische Fans feiern ihren Sieger Salvador Sobral.

Foto: Schreuder

Der Eurovision Song Contest ist keine Hitfabrik für Radiostationen und Hitparaden. Er ist eine TV-Show, in der ein Act einen Abend lang die meisten Menschen berührt. Dies erreichte Portugal mit zeitlos schöner Musik, abseits von Ö3 und Co.

Das Ergebnis

Portugal war von Beginn an Favorit für den Titel des diesjährigen Eurovision Song Contest. "Amor pelos Dois" ist ein zeitlos schönes Stück Musik, das die meisten Herzen der Europäer erreichen konnte und somit genau – sowohl bei den Jurys als auch bei den Zuschauern. Die faszinierende Art, wie Salvador Sobral (Spross einer portugiesisch-deutschen Adelsfamilie und Nachfahre von Karl I. von Hohenzollern) ihn vortrug tat sein übriges. Portugal ist seit 1964 beim Eurovision Song Contest dabei und konnte erst beim 49. Versuch gewinnen. Das sei dem Land gegönnt. Erfreulich auch, dass selbstgemachte Musik gewann, und nicht Reißbrettpop vom Fließband.

Italien konnte am Finalabend nicht in der Form überzeugen, wie erwartet wurde. Die Performance war wohl doch etwas zu bunt und der Tanz mit dem Affen – inspiriert durch das Buch "Der nackte Affe" von Desmond Morris – wurde nicht verstanden. Francesco Gabbani konnte bei seinem Sanremo-Sieg einen Esprit an den Tag legen, den er in Kiew nicht mehr in der gleichen Art wiederholen konnte. Er wird trotzdem eine große Karriere beginnen.

Dafür konnten in Kiew Bulgarien und Moldawien überzeugen, der eine mit Inbrunst und perfektem Radiopop, die anderen mit authentischen Spaß. Auch aus dem belgischen Beitrag wurde schlussendlich ein Erfolg. Blanche hatte rechtzeitig doch noch Spaß am Song und "City Lights" wird der Radiohit dieser ESC-Ausgabe. Apropos Radiohit:

Das Missverständnis

Von vielen Musikjournalisten – insbesondere von denen, die beim Radio arbeiten – hört man oft, mit einem portugiesischen Sieg sei der ESC quasi "tot", denn schon den Siegersong vom Vorjahr hätte man doch nie im Radio gehört und "Amor pelos Dois" könne man ebensowenig im Radio spielen. Nun ist Jamala in ihrer Heimat seit vielen Jahren ein unumstrittener Superstar, der sich mit dem Sieg 2016 nur den Nimbus der Unsterblichkeit holte. Mehr wollte sie womöglich auch gar nicht. Aber der ESC ist nun einmal kein Radiohit-Wettbewerb.

Der Eurovision Song Contest kann zu einem Sprungbrett für internationale Pop-Karrieren dienen. Dies ist aber nicht der Zweck des ESCs. Denn der besteht darin in einer Show, die für das Fernsehen konzipiert wird, ganz Europa zusammenzubringen und mittels Musik eine gemeinsame Party zu feiern. Und ein Beitrag vermag es in drei Minuten die meisten Menschen für diesen einen Abend zu begeistern und zu bewegen. Und dieser Beitrag gewinnt dann.

Auch "Rise Like a Phoenix" war keine radiotaugliche Hitparadennummer, der Song war aber ideal für Conchita und eine TV-Inszenierung.

"Volare", "Congratulations", "Ooh Aah, Just A Little Bit" oder "If I Were Sorry" im Vorjahr waren allesamt keine Gewinner des ESCs, wurden aber Megahits. Daher ist der ESC natürlich eine Möglichkeit Hits zu generieren, aber dafür muss man eben nicht gewinnen. Es sei aber schon angemerkt, dass Radiostationen schon auch selbst so manchen Künstler einfach ignorieren. Als 2012-Siegerin Loreen beispielsweise 2015 die Single "Paper Light" veröffentlichte, war das eine richtig gute Nummer, wurde aber von allen Radiostationen komplett ignoriert.

Zudem könnten Radiostationen natürlich auch "Amor pelos Dois" spielen, wenn sie denn wollten und Mut hätten, sie werden es aber nicht tun. Sie setzen lieber weiter auf den ewig gleichen Mainstream, der jeden Song irgendwann zu Tode spielt. Ich persönlich kann "If I Were Sorry" von Frans nicht mehr hören – dank der Radiosender. Würde der ESC aber ebenso eine Aneinanderreihung von Mainstream-Radiohits sein, wäre der Bewerb furchtbar langweilig. Da sind eine Mischung aus Trash, Ethno, Balladen, Pop, Rock und Jazz doch viel abwechslungsreicher, als was man alltäglich auf Ö3 zu hören bekommt.

Nathan Trent

Nathan Trent hat seine Sache sehr gut gemacht. Der ORF bewies Mut, indem er einen unbekannten und unerfahrenen Künstler nach Kiew schickte, der sich erst beweisen musste. Dass er nur die Jurys, nicht aber die Zuseher zuhause überzeugen konnte, ist schmerzhaft – und genau der umgekehrte Effekt von Zoë im Vorjahr, die bei den Televotern absahnte, aber von den Jurys ignoriert wurde.

Eberhard Forcher als Scout eines ESC-Beitrags zu engagieren, war 2016 eine wirklich gute Idee. Er ist gut vernetzt, kennt die österreichische Musikszene, ist anerkannt und hat vor allem kein Eigeninteresse, weil er weder ein Label hat noch ein Musikmanager ist. Ich hoffe, der ORF gibt ihn heute noch den Auftrag für 2018 Ausschau zu halten, denn je früher das geplant wird, umso besser kann man sich vorbereiten. Wie knifflig eine richtige Auswahl ist, sieht man jedes Jahr aufs Neue. Dass man dabei auch mal mutig anders sein kann, bewies heuer wiederum Portugal.

Jurys

Den Jurys hat Österreich den 16. Platz zu verdanken. Trotzdem waren einige Jury-Entscheidungen 2016 nicht nachvollziehbar. So wollte die EBU damit vor allem das nachbarschaftliche Freundschaftsvoting abschaffen. Doch Griechenland und Zypern pfiffen darauf und schanzten sich in alter und unbewehrter Manier ihre 12 Punkte zu.

Zudem wird es Zeit, dass die Jurys Australien als ein normales Teilnehmerland betrachten, und nicht als eine außergewöhnliche Ausnahme. Die vielen Jury-Punkte für einen mit schwacher Stimme vorgetragenen langweiligen Song waren peinlich.

Die Gastgeberstadt

Nicht wenige Fans reisten mit gewissen Vorurteilen in die ukrainische Hauptstadt. Die Vorstellung einer exsowjetischen Betonhölle mit vielen Plattenbauten und sonst nichts, war eine oft gehörte Erwartungshaltung der angereisten Fans und Journalisten. Sie alle sollten eines Besseren belehrt werden. Kiew ist eine wunderschöne Stadt, ein "Park mit einer Stadt drin" (sagte mal Charles de Gaulle). Die Inseln im Dnepr mit kilometerlangen Strände und viel Wald, die Kirchen und Denkmäler an den begrünten Uferhügeln, die großzügigen Boulevards der Innenstadt, in der es vor Lebensfreude nur so sprudelt, überraschte viele. Abseits des Eurovisionstrubel wieder herkommen ist ein guter Plan, eine Kiewreise sehr empfehlenswert.

Selbstverständlich waren auch die hiesigen Preise für U-Bahn-Fahrten, Taxifahrten und Abendessen nach dem skandinavischen Preisniveau des Vorjahrs eine Wohltat. Allerdings relativieren sich die Preise, wenn man sich die Durchschnittslöhne der Ukrainer ansieht.

Die Organisation

Nicht einmal der aserbaidschanische Song Contest 2012 war mit einem solchen massiven Aufgebot an Sicherheitskräften abgesichert. Die Exekutive hatte enormen Einfluss auf alles. Nicht selten war die die Antwort auf Frage ein obligatorisches "Because of security reasons…". Dies hörte man so oft, dass selbst die schwedischen Mitarbeiter den Satz schon zu persiflieren begannen. Man merkte, dass die Ukraine in Sachen Sicherheit übersensibel und ängstlich agierte. dies ist angesichts der Konflikte, von Kiew aus eigentlich recht weit weg im Osten des Landes, aber nachvollziehbar.

Den reibungslosen Ablauf des diesjährigen Contests haben wir aber Schweden zu verdanken. Der politische Einfluss auf den austragenden TV-Sender UA:PBC führte zu einem völligen Stillstand in den Vorbereitungen. Als die Schweden im Frühjahr noch retteten, was zu retten war und Christer Björkman das Ruder übernahm, ging alles sehr schnell und ik Eiltempo wurde doch noch ein guter Wettbewerb organisiert.

Der Ausschluss der russischen Delegation, wohl vorab seitens der Russen als cleverer Schachzug geplant (bei den Meetings vor dem Ausschluss glänzte die Moskauer Delegation regelmäßig durch Abwesenheit, zudem hatten sie als einzige Delegation noch vor dem Einreiseverbot keine Hotels gebucht), bleibt ein Schatten über diesen Song Contest. Die Ukraine reagierte eher stümperhaft, und somit war das PR-Desaster perfekt.

Am Abend des ESC war der Konflikt mit Russland aber längst vergessen. Denn mit Portugal gewann die Musik den Song Contest. Und das ist gut so. (Marco Schreuder, 14.5.2017)