Ex-ÖVP-Generalsekretärin Maria Rauch-Kallat.

Foto: Jeff Mangione

STANDARD: Sebastian Kurz will die ÖVP ganz oder gar nicht, alles umbauen oder nichts. Ist die Volkspartei 71 Jahre nach ihrer Gründung am Ende ihrer Geschichte?

Rauch-Kallat: Nein, das glaube ich nicht, weil Sebastian Kurz bewegt sich auf den Werten der Österreichischen Volkspartei. Er kommt aus dieser Gruppierung, er hat sich in einem sehr jungen Alter entschlossen, dort eine junge Gruppe aufzubauen, und ist jetzt aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre sehr rasch in eine Spitzenposition gerückt.

STANDARD: Fakt ist aber, dass er so gut wie alles über den Haufen werfen will – würden Sie allen seinen sieben Forderungen zustimmen?

Rauch-Kallat: Ja, uneingeschränkt. Es ist die einzige Chance, die ÖVP wirklich einer Rundumerneuerung, die sie dringend notwendig hat, zu unterziehen, und es ist klug von ihm, Bedingungen zu stellen und nicht zu verlangen, dass ihn jeder wählt, wie früher viele Parteiobleute, die gesagt haben, sie machen es nur, wenn sie einstimmig gewählt werden. Seine sieben Bedingungen sind durch und durch vernünftig.

STANDARD: Sie haben in einem STANDARD-Interview mit vier weiteren ÖVP-Granden fast auf den Tag genau vor sechs Jahren anlässlich des 65-Jahr-Jubiläums der ÖVP auf Bernhard Görgs Aussage "Würden wir die ÖVP neu erfinden, würden wir diese Struktur nicht machen. ... Das würde derartig viel Kraft kosten, ich sehe das nicht mehr" lachend geantwortet: "Da sterben wir vorher." Jetzt sieht es ganz danach aus, als würde die ÖVP "neu erfunden". Haben Sie das erwartet, dass es so schnell gehen würde?

Rauch-Kallat: Noch ist nicht entschieden, wie uneingeschränkt die Zustimmung sein wird, aber es ist eine unheimliche Chance für die ÖVP. Eine Chance, die schon in den 1980er-Jahren notwendig gewesen wäre und an der viele Parteiobleute gescheitert sind, weil sie sie nicht gehabt haben.

STANDARD: Sie sagten damals auch: "Die Teilorganisationen sind, was die Organisationskraft anbelangt, durchaus wichtig. Aber es müsste das Primat der Bundespartei vor Ländern und Bünden absolut gelten. Wir haben wirklich das Problem, dass einzelne Gruppen den Bundesparteichef erpressen, und das darf nicht sein." Wer ist das größere Problem: die Länder oder die Bünde?

Rauch-Kallat: Dass die Teilorganisationen wichtig sind, erkennt auch Sebastian Kurz völlig richtig. Er ist als Chef der Jungen ÖVP ja auch Teilorganisationsobmann. Bünde und Länder sind gleich schwierig. Umso wichtiger finde ich es, dass er die Listen bestimmen kann – die Bundesliste uneingeschränkt, aber auch ein Vetorecht für die Landeslisten. Und wenn Bundeskanzler Christian Kern in der "Pressestunde" sagt, es gehe nicht nur um Personen ... Natürlich geht’s auch um Personen, denn letztendlich machen diese Personen ja Politik. Und es geht nicht nur um die Person an der Spitze, sondern es geht auch um die Personen in den Gremien, in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Ministerien, wenn man in eine Regierungsverantwortung gewählt wird oder die Chance bekommt, eine Regierung zu bilden. Letztendlich ist eine Regierung nur so stark, wie sie auch Unterstützung in den entsprechenden gesetzgebenden Körperschaften findet, denn alles, was eine Regierung will, muss ja, Gott sei Dank, in Österreich vom Parlament beschlossen werden.

STANDARD: Aus der ÖVP soll die "Liste Sebastian Kurz" werden, vielleicht nur noch als Appendix genannt. Schmerzt es Sie, dass die ÖVP dann nicht mehr auf dem Wahlzettel stehen würde und die Partei sich einem Einzelnen so ausliefern muss, um zu überleben?

Rauch-Kallat: Wenn er damit Mehrheiten schaffen kann, ist das absolut legitim. Es schmerzt nicht. Man soll nicht irgendwelchen Namen nachhängen. Die ÖVP hat früher auch einmal Christlichsoziale Partei geheißen. Das sind Äußerlichkeiten, auf die kommt’s nicht an. Es kommt mehr auf die Inhalte an und darauf, wer die Politik bestimmt.

STANDARD: Kurz beansprucht enorme Durchgriffsrechte, das klingt ja auch recht autoritär. Gut so?

Rauch-Kallat: Gewisse Durchgriffsrechte zu haben ist sehr wichtig. Vor allem auf die Landeslisten. Auch das Reißverschlusssystem ist super, das finde ich großartig, wenngleich es nicht neu ist. Es ist bereits von der Partei beschlossen. Wir hatten den ersten Beschluss zum Reißverschlusssystem in der Wiener Landespartei, ein Antrag, den ich 1989 am Parteitag eingebracht habe und der eine Mehrheit gefunden hat. Die ÖVP Wien hat sich nur nie daran gehalten. Damals hieß es: Jedes zweite frei werdende Mandat geht an eine Frau. Auf den Bundeslisten wurde das Reißverschlusssystem auch schon unter Wolfgang Schüssel immer wieder gehandhabt, aber nie auf den Landes- und Bezirkslisten. Wenn es Sebastian Kurz gelingt, das in der Partei durchzusetzen, dann hat er wirklich etwas geschafft.

STANDARD: Wolfgang Schüssel, der letzte ÖVP-Kanzler, hat vieles, was Kurz jetzt will, etwa die inhaltliche Linie der Partei vorzugeben, ohne schriftliche Unterwerfungsgesten der Länder und Bünde geschafft – kraft seiner Persönlichkeit?

Rauch-Kallat: Wolfgang Schüssel hat es erst 2002 geschafft, nach seinem großen Wahlsieg. Jeder, der es schafft, einen Wahlsieg einzufahren, und zwar einen so entscheidenden, nach 36 Jahren wieder stimmenstärkste Partei zu werden, hat natürlich Freiheiten. Das hat Sebastian Kurz noch nicht gemacht, und ich finde auch sehr legitim, dass er sagt, er habe sich noch nie einer Wahl gestellt, auch Christian Kern nicht, daher ist es sinnvoll, sich die Legitimation des Wählers zu holen. Man soll nicht so wehleidig sein und sagen, es sind erst vier Regierungsjahre. Bis vor zwei Wahlen waren vier Jahre die normale Legislaturperiode, und im Herbst sind vier Jahre um.

STANDARD: Apropos Wahlkampf: Der letzte große ÖVP-Wahlsieg entstand unter Ihrer Ägide als Generalsekretärin: Was sagen Sie denn zur Anti-Kommunisten-Broschüre aus der Lichtenfelsgasse?

Rauch-Kallat: Ich habe solche Broschüren nie geliebt, ich halte sie für Uraltpolitik, wir haben solche Broschüren in meiner Zeit nicht gemacht. Ich weiß aber, dass sie von manchen Funktionären geliebt werden.

STANDARD: Ist das entscheidende Erfolgskriterium für Sebastian Kurz, dass er das Kanzleramt wieder für die ÖVP zurückerobert?

Rauch-Kallat: Natürlich wäre das schön. Jede Partei, die antritt, muss mit dem Anspruch antreten, zu siegen und möglichst stark zu werden, und je stärker sie wird, desto leichter kann sie auch Dinge umsetzen. Aber ich erwarte dann auch, dass er, wenn er das Kanzleramt zurückerobert, immer sehr sorgsam mit dem Koalitionspartner umgeht und versucht, die Regierung wirklich zu einer Einheit zu machen – da war Wolfgang Schüssel ein großartiges Beispiel. Das ist in der letzten Regierung nicht gelungen, das ist schon aber auch Verantwortung des Regierungschefs.

STANDARD: Selbst wenn er Wunderkräfte haben sollte, für eine Absolute wird’s wohl nicht reichen … Fürchten Sie sich schon vor einer Neuauflage von Schwarz-Blau, die ja nicht nur die Republik ziemlich teuer zu stehen gekommen ist?

Rauch-Kallat: Ich fürchte mich vor nichts. Jetzt habe ich noch weniger Grund, mich zu fürchten. Ich habe keinerlei Funktion mehr in der ÖVP, fühle mich ihr aber nach wie vor verbunden und auch verpflichtet, weil ich ein Leben lang für die Werte der ÖVP gekämpft habe, manchmal auch an ihr gelitten, aber das ist jedem von uns so gegangen. Eine Koalitionsregierung ist immer eine Frage des Willens und auch des Geschicks. Die sechs Jahre, die Wolfgang Schüssel Kanzler war, auch wenn’s Schwarz-Blau war, waren nicht die schlechtesten für Österreich, ganz im Gegenteil. Da ist sehr viel weitergegangen, zum Beispiel die Pensionsreform. Aber das letzte Wort haben die Wählerinnen und Wähler. (Lisa Nimmervoll, 14.5.2017)