Das Archiv vergisst nichts. Und so findet sich darin ein Satz, den SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz Anfang April beim Wahlkampfauftakt der SPD in Nordrhein-Westfalen gesagt hat: "Wenn Hannelore in NRW gewinnt, werde ich Bundeskanzler." Hannelore Kraft ist seit der Wahlschlappe der SPD am Sonntag Geschichte, und so muss sich Schulz natürlich fragen lassen, ob nun der Umkehrschluss gilt. Ob also er nun doch nicht Bundeskanzler wird, sondern Angela Merkel Regierungschefin bleibt und in ihre vierte Amtszeit gehen kann. Es ist klar, wie die SPD die Sache sieht. Im Willy-Brandt-Haus sind sie immer noch überzeugt davon, dass es ein Duell auf Augenhöhe wird: Er oder sie. Schulz oder Merkel.

Vielleicht kommt es noch dazu, gewählt wird ja nicht morgen, sondern erst am 24. September. Im Moment jedoch sieht es nicht danach aus – nicht nur, weil die SPD drei Landtagswahlen (Saarland, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) krachend verloren hat, sondern auch, weil sie rein bundespolitisch gesehen in Umfragen wieder deutlich hinter der Union liegt.

Offenbar hat die SPD die eigenen Kräfte über- und das Beharrungsvermögen Merkels unterschätzt. Merkel sei out, die Deutschen hätten genug von ihr, so lautete zu Jahresbeginn, als Schulz ins Spiel kam, die Überlegung der SPD. Der ehemalige EU-Parlamentspräsident galt dagegen als unverbrauchtes, frisches Gesicht im Berliner Politbetrieb.

Merkel aber dachte überhaupt nicht daran, sich aufzuhübschen und neue Akzente zu setzen, um mithalten zu können. Sie blieb einfach sie selbst und wartete, bis der Schulz-Hype sich wieder legt. Als Wahlkampfhelfer wusste sie auch US-Präsident Donald Trump unfreiwillig an ihrer Seite: Je hektischer dieser nach seiner Angelobung agierte, desto erstrebenswerter erschien den Deutschen offensichtlich eine pragmatische und ruhige Kanzlerin.

Die CSU hat sich auch wieder beruhigt, die Frage "Wohin mit all den Flüchtlingen?" ist keine mehr. Stattdessen spricht Innenminister Thomas de Maizière (CDU) von "Leitkultur" und verschärft die Sicherheitsgesetze – was Merkel ebenfalls in die Hände spielt.

Doch die SPD hat nicht nur die Kanzlerin selbst unterschätzt, sondern muss sich langsam fragen, ob sie nicht zudem eine Themenverfehlung beging. Das Thema Gerechtigkeit, mit dem Schulz durch die Lande zieht, reißt die Menschen nicht so vom Hocker wie gedacht. Das mag damit zusammenhängen, dass es den meisten Deutschen gutgeht. Keine Frage, es könnte immer noch besser laufen. Aber die Mehrheit findet: Merkel sorgt nicht schlecht für uns.

Dennoch: In der Tasche hat Merkel den Sieg bei der Bundestagswahl noch nicht zu hundert Prozent. Es kann noch viel passieren in vier Monaten. Profitieren würde Schulz wohl, wenn Merkel sich jetzt zu siegessicher gibt. Aber diesen Gefallen wird sie ihm wohl nicht tun.(Birgit Baumann, 15.5.2017)