In den bisherigen Folgen dieser Serie haben wir gezeigt, dass die Gegenwartskultur, entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis, keineswegs von Materialismus und Hedonismus durchdrungen ist, sondern ganz im Gegenteil von asketischen – und narzisstischen – Idealen. Und dass asketische Ideale nicht nur das Denken und Handeln vieler gewöhnlicher Zeitgenossen bestimmen, sondern häufig auch jenes der Angehörigen politischer Eliten.

Zusammen mit dem Philosophen Robert Pfaller hatten wir jene aktuell weit verbreiteten asketischen und narzisstischen Ideale dem "Bekenntnisglauben" zugeordnet (siehe „Warum wir anderen etwas vorspielen sollten“). "Bekenntnisgläubige" – im Pfallerschen Verständnis – sind mit den Inhalten ihres Glaubens identifiziert. Und beziehen aus der Identifizierung mit ihrem Glauben Selbstachtung und Stolz, in der Sprache der Psychoanalyse: "Narzisstische Libido". Allerdings auf Kosten der sogenannten "Objektlibido", also auf Kosten der Lust, der Liebe – und des guten Lebens.

Die Glaubensinhalte, mit denen sich Bekenntnisgläubige identifizieren, sind nicht immer religiöser Natur. Bekenntnisgläubige im Sinne Pfallers können etwa leidenschaftlich mit ihrer Arbeit identifiziert sein – mit anderen Worten, an ihre Arbeit glauben – und darüber jede andere Leidenschaft vergessen. Oder vor lauter Identifizierung mit politischen oder ökologischen Idealen und der narzisstischen Sorge um die Korrektheit ihrer politischen Äußerungen, die Realität aus dem Blick verlieren.

Sind Bekenntnisgläubige fanatisch?

Exemplarisch für die Verbreitung dieser Art Bekenntnisglaubens unter Angehörigen der politischen Elite war der Umgang der deutschen Bundesregierung mit der griechischen Staatsschuldenkrise im Jahre 2015 – siehe den Blogbeitrag "Von der entkoffeinierten Sexualität zur entpolitisierten Politik". Dieser schien nicht so sehr durch "egoistische", sprich machtpolitische und ökonomische Interessen motiviert, als durch abstrakte Prinzipien und einen Fanatismus der Regeln. Bekenntnisgläubig und fanatisch erscheint diese Haltung, insofern sie abstrakt ist, sich also vom Bereich real existierender Objekte losgesagt hat.

Ist der Bekenntnisglaube – auch der Bekenntnisglaube im herkömmlichen religiösen Sinn – demnach immer fanatisch?

In einem Kommentar in Zeit Online nach der Ermordung von Redakteuren des Satiremagazins Charlie Hebdo durch islamische Terroristen verneint Slavoj Zizek diese Frage, indem er den Unterschied zwischen "wahren Gläubigen", die er im folgenden „authentische Fundamentalisten“ nennt, und – fanatischen – "Islamisten" herausstreicht.

"Offensichtlich fehlt [den islamischen Fundamentalisten] doch etwas, das sich an allen authentischen Fundamentalisten mühelos beobachten lässt, ob an tibetischen Buddhisten oder den Amish in den Vereinigten Staaten: die Abwesenheit von Ressentiment und Neid, die tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensart der Ungläubigen. Wenn die [...] [islamischen Fundamentalisten] wirklich glauben, ihren Weg zur Wahrheit gefunden zu haben, warum sollten sie sich dann durch Nichtgläubige bedroht fühlen, warum sollten sie sie beneiden? Wenn ein Buddhist auf einen westlichen Hedonisten trifft, verurteilt er ihn kaum, sondern stellt vielmehr wohlwollend fest, dass die Glückssuche des Hedonisten zum Scheitern verurteilt ist. Im Unterschied zu wahren Fundamentalisten sind die terroristischen Pseudofundamentalisten vom sündigen Leben der Ungläubigen zutiefst umgetrieben, fasziniert, bezaubert. Man spürt, wie sie ihre eigene Versuchung bekämpfen, wenn sie den sündigen Anderen bekämpfen."

Konträr zu "Islamisten" sind Amish gegenüber Ungläubigen gleichgültig.
Foto: AP/Scott R. Galvin

Sein Reich ist auch von dieser Welt

Zizek konstatiert bei sogenannten islamischen Fundamentalisten einen Mangel an Glauben, den er an ihrer Fixierung auf das sündige Leben der Ungläubigen festmacht. Seiner Beschreibung der "Islamisten"¹ als neidische, ressentimentgeladene Subjekte ist zwar zuzustimmen. Wir sollten hier aber, einer Devise von Zizek selbst folgend, acht geben und präzise sein: Indem sie den sündigen Anderen bekämpfen, bekämpfen jene mit dem Islam "voll identifizierten" Subjekte nicht die Versuchung, selbst in Sünde zu leben. "Islamisten" sind keine asketischen Mönche. Ihr Neid hat nichts mit der (vermeintlichen) sexuellen Libertinage des Westens zu tun. Was sie umtreibt, ist nicht Sex, sondern Macht: Die narzisstische Kränkung, die sie durch die Konfrontation mit der westlichen Moderne erleiden. Und durch das Gefühl den Ungläubigen unterlegen zu sein. Spätestens seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – als Napoleon handstreichartig Ägypten eroberte und Persien alle vier Russisch-Persischen Kriege verlor – dämmerte es den Eliten in islamisch dominierten Gesellschaften, dass sie dem "ungläubigen" Europa technologisch und militärisch hoffnungslos unterlegen waren. Dass die Zeit des Siegens und Herrschens über die Ungläubigen endgültig vorbei war.

Wie das Judentum ist der Islam eine am Diesseits orientierte Religion. Sein Reich ist (auch) von dieser Welt. Mohammed gründete nicht bloß eine Religion sondern auch einen Staat, dessen Herrschaftsgebiet sich am Ende seines Lebens auf die gesamte arabische Halbinsel erstreckte. Gute eineinhalb Jahrhunderte später war die Errichtung eines islamisch beherrschten Imperiums zwischen Indien und Spanien gelungen.

Die Ideale des bekenntnisgläubigen, mit dem Islam "voll identifizierten" Subjekts sind zwar narzisstisch, aber nicht rein asketisch. Der Anspruch auf Herrschaft über real existierende Gesellschaften und Menschen – Stichwort Objektlibido – ist in jenen Idealen selbst angelegt: Kurzschluss zwischen Himmel und Erde. Zwischen narzisstischer und Objektlibido. Wird dieser Anspruch auf Herrschaft und Überlegenheit nicht eingelöst, scheint „der Islam“ also dem ungläubigen Westen unterlegen, kommt es bei den mit ihm identifizierten Subjekten zu einer tiefen narzisstischen Krise. Das unterscheidet sie von den tibetischen Buddhisten oder den Amish.

Aber endlich muss man beginnen zu lieben

So sehr Zizeks Charakterisierung sogenannter islamischer Fundamentalisten als neidische, ressentimentgeladene Subjekte unsere Zustimmung findet, so sehr sollten wir seine Idealisierung des "authentischen Gläubigen" zurückweisen. Der "authentische Glaube" disponiert den Bekenntnisgläubigen vom Typus "tibetischer Buddhist" genauso wenig zum Glück wie den "Islamisten" die volle Identifizierung mit dem Islam.

Buddhistische Mönche beziehen, wie andere Bekenntnisgläubige, aus ihrem Glauben Selbstachtung.
Foto: REUTERS/Edgar Su

Denn: Als Bekenntnisgläubige sind tibetische Buddhisten, aber auch gläubige Juden, Christen, Muslime et cetera mit den Idealen ihres Glaubens identifiziert, und beziehen aus der Verinnerlichung dieser Ideale, wie oben beschrieben, Selbstachtung und Stolz. Sprich: "narzisstische Libido" – auf Kosten von "Objektlibido". Der Preis für die Zunahme an Selbstachtung ist also, um es wieder in der Alltagssprache zu sagen, der Verzicht auf die Verwirklichung des Glücks in der real existierenden Welt.

Das Glück sucht der typische Bekenntnisgläubige im "Innenraum seiner Seele", wo er sich von den Unwägbarkeiten und Wechselfällen der real existierenden Außenwelt frei fühlt, diese Unabhängigkeit aber mit der Abhängigkeit von seinen verinnerlichten Idealen bezahlt. Anders gesagt: Mit der Abhängigkeit von seinem Über-Ich.

Das Über–Ich ist aber nicht einfach das verinnerlichte Gesetz. Anders als das Gesetz wird es umso strenger und quälender, je mehr sich das Subjekt ihm unterwirft. An diesem Sadismus des Über-Ichs und an der Tatsache, dass Selbstachtung und Stolz die Beziehung zu real existierenden anderen nicht zu ersetzen vermögen, muss die Glückssuche der Bekenntnisgläubigen scheitern.

"Ein starker Egoismus", schreibt Freud, "schützt vor Erkrankung, aber endlich muss man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muss erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann."² (Sama Maani, 16.5.2017)

Ende der Serie

¹  Über die falsche Verwendung des Begriffs "Islamismus" vgl. den Blogbeitrag "Unser Problem ist die Scharia nicht der 'Islamismus'"
² Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus. In ders., Gesammelte Werke, Bd X, Frankfurt am Main 1999, S. 151 f

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