Für Cannes, die Kleinstadt an der Côte d'Azur, kommt das alljährliche Filmfestival einer Invasion gleich. Die Bevölkerung verdreifacht sich während dieser zwölf Tage im Mai, schnellt von 70.000 auf rund 200.000 hoch. Vergleichsweise klein und erlesen ist hingegen die Zahl der Wettbewerbsfilme, die um die Goldene Palme rittern – bei der diesjährigen Ausgabe zum 70-Jahr-Jubiläum werden es in der Königsklasse gerade einmal 19 sein. Darunter auch Happy End, der geheimnisumwitterte Film des zweifachen Cannes-Gewinners Michael Haneke.

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Ein Bild von Claudia Cardinale aus dem Jahr 1959 schmückt das offizielle Plakat: Cannes 2017 ist eröffnet.
Foto: REUTERS/Stephane Mahe

Dass sich auch zwei Eigenproduktionen des Streaming-Diensts Netflix unter den Kandidaten finden, hat in Frankreich im Vorfeld für die größte Kontroverse gesorgt. Denn Netflix sieht keine Kinoauswertung seiner Filme vor. Die Vorstellung, dass bei dem prestigeträchtigen Festival nun gar ein Film ausgezeichnet werden könnte, der nicht der gesamten Öffentlichkeit zugänglich ist, wurde nicht nur von Feuilletons als Tabubruch gewertet. Dahinter geht es freilich um die Geschäftsinteressen einer ganzen Kette von Vertriebs- und Verleihunternehmen.

Cannes hat reagiert – mit einem Kompromiss. Okja des Südkoreaners Bong Joon-ho sowie The Meyerowitz Stories von US-Regisseur Noah Baumbach bleiben im Programm, ab 2018 müssen allerdings alle Teilnehmer garantieren, dass der Film auch in den (französischen) Kinos startet. Den Umbruch in der Produktions- und Verwertungslandschaft wird man damit nicht aufhalten können. Allerdings hat das Beispiel Amazon schon 2016 gezeigt, dass eine Annäherung zwischen Online- und Kinorelease eine mögliche Lösung wäre.

Neues und Arriviertes

Mit dem Eröffnungsfilm am Mittwochabend signalisiert das Festival dieses Jahr jedenfalls seine cinephile Expertise. Der Franzose Arnaud Desplechin ist ein waschechter "Auteur", seine Filme sind oft autobiografisch geprägt und mit filmhistorischen Zitaten durchsetzt.

In Les Fantômes d'Ismaël geht es um einen Mann zwischen zwei Frauen, wobei sich die Frage stellt, ob beide tatsächlich von dieser Welt sind. Mit Mathieu Amalric, Charlotte Gainsbourg und Marion Cotillard wartet der Film mit einer Traumbesetzung auf.

In der Zusammensetzung des Wettbewerbs kann man eine gewisse Verjüngung feststellen: Die US-amerikanischen Brüder Josh und Benny Safdie (Good Time) sind erst Anfang 30; und mit dem Schweden Ruben Östlund (The Square) sowie Bong und Baumbach gibt es weitere Neuzugänge, die gegen arrivierte Filmemacher der mittleren Generation wie Sofia Coppola, Todd Haynes und Giorgos Lanthimos antreten. Den Juryvorsitz hat der Spanier Pedro Almodóvar inne, u. a. Toni Erdmann-Regisseurin Maren Ade und US-Star Jessica Chastain werden mit ihm bis 28. Mai die Entscheidungen fällen.

Da auch die anderen Schienen attraktiv besetzt sind – von Valeska Grisebach über Claire Denis bis Roman Polanski -, verspricht die 70. Ausgabe von Cannes ein dichtes Treiben zu werden, bevor wieder Ruhe in die Stadt einkehrt. Oder der nächste Spezialistenstamm in den Ort einfällt. (Dominik Kamalzadeh, 16.5.2017)