Bild nicht mehr verfügbar.

Links gegen rechts, Cowboy gegen Sheriff (hier Glenn Ford in "Totem"): Politik lebt von einem ständigen Aushandlungsprozess.

Foto: Picturedesk/akg-images

Chantal Mouffe: "Demokratie gibt es nur, wo es eine Wahl zwischen echten Alternativen gibt, wo Konflikte ausgetragen werden."

Foto: Huseyin Aldemir

STANDARD: Leben wir Ihrer Meinung nach in einer funktionierenden Demokratie?

Mouffe: Nein, wir leben in einer postdemokratischen, postpolitischen Situation. Die Parteien der Mitte vertreten den Konsens, dass es zur neoliberalen Globalisierung keine Alternative gibt. Selbst die gemäßigt linken Parteien glauben, diese Entwicklung nur etwas humaner managen zu können, vertreten aber im Kern dasselbe. So hat man nur die Wahl zwischen Pepsi und Coca-Cola. Das ist die Wurzel der gegenwärtigen Krise der Demokratie.

STANDARD: Inwiefern?

Mouffe: In dieser Situation können sich Bürger kein Gehör verschaffen. Obwohl sie wählen, können sie keine wirkliche Entscheidung treffen und Einfluss nehmen. So fühlen sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Wirkliche Demokratie gibt es nur, wo es eine Wahl zwischen echten Alternativen gibt, wo Konflikt ausgetragen wird.

STANDARD: Geht es in der Demokratie nicht vielmehr darum, Ausgleich oder Konsens zu erreichen?

Mouffe: In politischen Fragen gibt es nie nur eine rationale Antwort. Einen alle versöhnenden Konsens kann es nicht geben. Politik ist vielmehr von Gegensätzen geprägt, zwischen denen man nicht vermitteln kann, sondern entscheiden muss. In der Politik geht es um solche Konflikte. Daran kann auch die Demokratie nichts ändern.

STANDARD: Woher rühren diese Konflikte?

Mouffe: Unser Demokratieverständnis speist sich aus zwei Traditionen, einer liberalen mit dem Hauptwert Freiheit und einer demokratischen mit dem Hauptwert Gleichheit. Grob entspricht das dem Gegensatz von rechts und links. Zwischen ihnen gibt es eine unlösbare Spannung: Völlige Freiheit und völlige Gleichheit können nicht zusammen bestehen. Darum wird immer ein Moment das andere dominieren, ihr Verhältnis muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Dieser Aushandlungsprozess hat mit Durchsetzung des Neoliberalismus aufgehört. Heute dominiert das liberale Moment das demokratische vollends. Damit wurde der demokratische Konflikt stillgestellt, und darum spreche ich von einer postdemokratischen, postpolitischen Situation.

STANDARD: Was sind die Folgen davon?

Mouffe: Wenn es keine echten Alternativen gibt, bereitet das den Nährboden für rechte Populisten. Deren Erfolge sind eine direkte Konsequenz des neoliberalen Konsenses. Mit fremdenfeindlicher und nationalistischer Rhetorik versprechen Leute wie US-Präsident Donald Trump, eine echte Alternative zu sein und den Bürgern wieder eine Stimme zu geben. Ihre Erfolge verkörpern eine Infragestellung der Postdemokratie, die eigentlich berechtigte Forderung nach mehr Demokratie. Das Problem ist die Art und Weise, wie sie das tun.

STANDARD: Das klingt paradox: Mit der Stimme für Trump versuchen Wähler, ihre Forderung nach echter Demokratie zu artikulieren.

Mouffe: Für mich klingt es geradezu evident. Viele Wähler Trumps waren Arbeiter aus deindustrialisierten Regionen. Diese Leute wurden von der Demokratischen Partei völlig aufgegeben, die sich stattdessen Wall Street und Minderheiten zuwandte. Von der Partei, die sie traditionell vertrat, den Rücken zugekehrt, entschieden sich die Menschen für Trump, der mit ihnen redete, sich für sie interessierte und eine Alternative versprach.

STANDARD: Muss die Forderung nach mehr Demokratie immer dem rechten Populismus in die Hände spielen?

Mouffe: Nein. Jean-Luc Mélenchon in Frankreich, Bernie Sanders in den USA, Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland sind Beispiele für Bewegungen, den neoliberalen Konsens von links infrage zu stellen. Die Forderung nach echten Alternativen formulieren sie auf eine linke, fortschrittliche Weise. Statt Einwanderer zu Feinden zu machen, suchen sie die Konfrontation mit den Kräften des Neoliberalismus. Rechten Populismus können nur solche linkspopulistischen Bewegungen wirksam bekämpfen. Die Zukunft der Demokratie wird darum von einer Konfrontation zwischen Rechts- und Linkspopulismus geprägt sein.

STANDARD: Können damit Wähler rechter Populisten überzeugt werden?

Mouffe: Die Kampagne Mélenchons bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich zeigte, dass sie zurückgewonnen werden können. Le Pen blieb unter ihren Prognosen, weil sich Wähler stattdessen ihm zuwandten. Er hat in einigen Städten gewonnen, in denen zuvor der Front National dominierte. Linker Populismus zeigte sich hier als die richtige Strategie. Mélenchon gelang es auch, Affekte und Leidenschaften für sein Projekt zu mobilisieren. Sie bilden ein wichtiges Element jeder Bewegung, um rechte Populisten zu bekämpfen.

STANDARD: Sind Affekte in der Politik nicht gefährlich?

Mouffe: Die Linke war lange zu rationalistisch. Affekte zu bedienen galt als rechts oder gar faschistisch. Man kann rechten Populismus aber nicht allein mit Argumenten bekämpfen. Der Philosoph Spinoza hatte recht damit, dass ein Affekt nur durch einen anderen, stärkeren Affekt bekämpft werden kann. Neben einem politischen Programm braucht es daher auch Affekte in der Politik. Dass rechte Populisten die Wichtigkeit von Affekten früh verstanden, ist gerade einer der Gründe dafür, warum sie in der Vergangenheit erfolgreich waren. Sie müssen nicht immer die Form von Nationalismus und Fremdenhass annehmen. Mit seiner Libidotheorie zeigte Sigmund Freud, dass sich dieselben affektiven Energien je nach Kontext verschieden äußern können. So können linke Bewegungen auch Leidenschaft für Gerechtigkeit und Gleichheit mobilisieren.
(Miguel de la Riva, 21.5.2017)