Die Zeitgenossen von vorgestern: Das Künstlerkollektiv Saint Genet matscht und sudelt, dass es eine Art hat. Die Achtziger grüßen.

Foto: Wagner-Strauss

Wien – Erblasser von Desastern und Weltverschwender reagieren meist erst dann verstört, wenn ihr Tun in Chaos zerfällt, und kaum je rechtzeitig, sobald die Kassandra ruft. Vergebliches Warnen wie im alten Troja, viel zitiert seit Aischylos und Lykophron – bei Letzterem heißt die Seherin übrigens "Alexandra" -, füllt auch die Gegenwart bis zum Bersten.

Derrick Ryan Claude Mitchells Künstlerkollektiv Saint Genet aus Seattle hat das erkannt und macht in der Uraufführung seiner choreografischen Performance Promised Ends: The Slow Arrow of Sorrow and Madness ein bereits geplatztes Fass auf. Doch mithilfe von Shakespeares Tragedy of King Lear entlockt Mitchell bei den Festwochen in der Museumsquartier-Halle G dem entleerten Gefäß noch ein hohles Echo: "Can you see the enemy?"

Licht genug gibt es am Anfang des Stücks, wenn sich innerhalb eines riesigen, unruhigen Gebildes aus Leuchtstoffröhren ein angepatzter Shakespeare mit Rotwein volllaufen lässt. Sobald er aus dem Strahlen seines Vorsichhinbrütens wankt, wird's düster. Im Hintergrund tanzen Goneril, Regan und Cordelia unter sinistren Goldgewinden, und Erblasser Lear kommt im Rollstuhl daher.

Was mit ihm geschehen wird, ist von den fünf Akten, hier fünf "Movements", des Dramas vorgezeichnet. Mitchell vereinfacht den Verlauf der Geschichte, entreißt Shakespeare die Worte, zerschneidet sie und versetzt die Schnipsel mit zusätzlichem Wortmaterial. Was dieser Vorgang ausspuckt, wird mündlich verlautet oder seitlich an die Wände des Theaterraums projiziert.

Erinnerung an Kurosawa

Die drei Schwestern sind keine Charaktere mehr, sondern nachtmahrhafte Phantome einer fetischisierten Erosion. Der Hofnarr wirkt als Menetekel im Hintergrund. In den Mittelpunkt dagegen gerät immer wieder eine cordelienhafte Figur (Lily Nguyen), deren Erscheinung vage daran erinnert, dass Mitchell Akira Kurosawas filmische Lear-Bearbeitung Ran von 1985 als Inspiration für sein Stück genutzt hat.

Deutlicher dagegen wird sein Faible für Robert Wilson. Wie dieser bei seiner La Traviata 2015 in Linz arbeitet auch Mitchell mit dem Lichtdesigner John Torres zusammen: Die Leuchtstoffröhren-Installationen in beiden Arbeiten sind einander verblüffend ähnlich. Überhaupt ist Promised Ends: The Slow Arrow of Sorrow and Madness ein Fest für Achtzigerjahre-Nostalgiker. Auch ein weiterer Saint-Genet-Bezug stammt aus diesem Jahrzehnt: Jean-Luc Godards King Lear von 1987.

Mitchell (36) ist Anfang der Eighties geboren, in denen die Saat für all das gelegt wurde, was jetzt politisch als desaströse Weltverschwendung zum verhängnisvollen Erbe wird. An die kathartische Wirkung von Kunst glaubt heute im Gegensatz zu damals kaum noch jemand. Auch Mitchell nicht. Was ihm bleibt, weil er halt so gern auf Opulenz setzt, ist das Mischen, Kneten und Auswalzen von Stimmungen, von Bildern und Aktionen auf der Bühne.

Mitchells Zeitgenossenschaft ist unverkennbar eine von vorgestern. Damit integriert sie sich nahtlos in das trendige Wiederabfeiern der überbordenden Ästhetik von dazumal. Entsprechend fett und illustrativ wirkt die Livemusik, so festlich werden Honig und blutroter Sirup auf Körper gegossen, Leiber aneinandergematscht und bunte Scheinwerfer bedeutungsvoll ins Auditorium gerichtet.

Nur eine entleerende Litanei gegen Ende kommt wirklich aus den Verwirrungen der Gegenwart. Da ist die Kassandra zur Nymphe Echo geworden, die in ihrer Kammer des Immergleichen verwelkt. Ein rettender Einfall, bevor die Band dudelnd das Weite sucht – womit das Stück allerdings noch nicht endet. (Helmut Ploebst, 17.5.2017)