Rivalinnen unter der Sonne: Marion Cotillard und Charlotte Gainsbourg in Arnaud Desplechins "Les Fantômes d'Ismaël".

Foto: Festival Cannes

TV-Serien wie Twin Peaks als Preview, von Streaming-Diensten initiierte Filme im Wettbewerb, Virtual-Reality-Experimente von Alejandro Gonzalés Iñárritu im Spezialangebot: Das Filmfestival von Cannes stellt gleich mit mehreren Initiativen eine erweiterte Palette audiovisuellen Schaffens zur Schau. Und das geschieht aus gutem Grund. Schließlich muss auch das Konzept Festival neu überdacht werden, wenn in einer sich verändernden Produktionslandschaft Regisseure sich nicht mehr aufs klassische Filmformat beschränken.

Mit der Entscheidung, die 70-Jahr-Jubiläumsausgabe mit Arnaud Desplechins Les Fantômes d'Ismaël zu eröffnen, rückt Festivaldirektor Thierry Frémaux allerdings wieder das Kino selbst in den Mittelpunkt. Glücklicherweise mit Blick nach vorn: Dies ist kein Film, der von nostalgischer Wehmut durchdrungen ist, sondern einer, der von der Erfindungslust seines Autors lebt. Der 56-jährige Franzose ist ein cinephiler Regisseur, einer, der das Kino liebt und durch dessen Bilder sein radikal eigenes formt. "Ich habe versucht, einen ganzen Stapel an Tellern voller Fiktion zu erfinden, um diese dann alle auf der Leinwand zu zerschlagen" – so viel zu seinen Absichten.

Französischer Trailer.
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Tatsächlich liefert Desplechin damit eine treffliche Beschreibung eines unruhigen, sprunghaften Films, der gleich mehrere andere enthält. Die erzählerischen Teilstücke stehen zwar alle miteinander in Beziehung, ein geschlossenes Bild ergeben sie jedoch nicht – zumindest kein allzu konkretes. Gegen Ende steht Ismaël, der von Mathieu Amalric mit wachsendem Nervenflattern verkörperte Regisseur, vor einem Gemälde von Jackson Pollock und meint, darin gleich eine ganze Gruppe von Frauen beziehungsweise weiblichen Körperteilen entdecken zu können. Das als ein Hinweis, dass die Kunst das Leben durchdringt und dieses doch nur mangelhaft abzubilden vermag.

Scherbentheater

Amalric war schon öfter das Alter Ego Desplechins. Im ersten Teil des Films hat der etwas derangierte Künstler mit der scheuen Astrophysikerin Sophie (Charlotte Gainsbourg) zu neuem Beziehungsglück gefunden. Doch dieses hält nur so lange, bis in dem Rückzugsort am Meer Carlotta (Marion Cotillard) auftaucht, seine erste Frau, die vor zwanzig Jahren verschwunden ist. Der Einfluss von Alfred Hitchcock klingt schon mit dem an Bernard Herrmann erinnernden Score an, bevor ihn der an Vertigo geschulte Plot greifbar werden lässt. Das emotionale Gleichgewicht des Trios beginnt zu kippen, Rivalität bricht unter den Frauen aus.

Der Film im Film, an dem Ismaël schreibt und dessen komisch überspannte Szenen das Beziehungsdrama unterbrechen, ist dagegen der weiten Welt zugewandt. Die schwer zu durchschauende Spionagegeschichte kreist rund um Ismaëls abtrünnigen Bruder Daedalus (Louis Garrel), einen Botschafter und möglicherweise auch Spion, und führt über Tadschikistan bis nach Tschechien.

Die Perspektiven des Films werden sich nicht versöhnen lassen – das sollen sie auch gar nicht. Desplechin entlarvt den Plot als fadenscheiniges Spiel, er schiebt Szenen wie Bausteine ineinander, vermischt Autobiografisches und Filmhistorisches. Das wirkt auf Dauer leicht ermüdend und nutzt doch immer wieder virtuos die vielen Stilmittel des Kinos.

Mit Bloom, dem nach Joyces Ulysses benannten Vater Carlottas, gibt es auch eine tragische Figur, die sich in diesem Bilderlabyrinth aus Kunst und Leben verfangen hat. Ismaël hat noch einmal Glück, ihn rettet am Ende die Burleske. Die Filmkritik reagierte auf Desplechins Scherbentheater völlig stumm. Kein einziges Buh, kein Applaus. Das gab es in Cannes auch noch nie. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 17.5.2017)