Herrscher neuen – demokratischen? – Zuschnitts: Reccep Erdogan und Donald Trump.

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Nicht nur das demokratische Recht, auch der faschistische Autoritarismus geht vom Volk aus. Das ist zwar hinlänglich erwiesen, wird aber angesichts der historischen Schuld gerne verleugnet. Diese desillusionierende Erkenntnis über das Verhalten der breiten Bevölkerung sollte jedoch weder vergessen noch vernachlässigt werden.

Bekanntlich entstehen die heutigen autoritären Staatsformen nicht einfach nur auf Basis von vordemokratischen Strukturen in politisch unterentwickelten Regionen. Betrachtet man die aktuellen Tendenzen in Europa und den USA, so zeigt sich, dass auch ein hohes Entwicklungsniveau nicht ausreichend vor Autoritarismus zu schützen vermag. Dementsprechend wäre der heute wieder drohende Faschismus nicht als vordemokratische Staatsform zu verkennen, sondern als Produkt der bestehenden politischen Systeme, sprich: als ein "autoritärer Sündenfall" von (mehr oder weniger) entwickelten Demokratien anzusehen. Der Faschismus hat nämlich keine eigenständige Geschichte, er erwächst vielmehr aus anderen Staatsformen. Im Besonderen ist er als Reaktion auf ein Demokratieversagen in Krisenzeiten zu verstehen, in denen der überwiegende Teil der Bevölkerung nach der "starken Hand" eines Führers verlangt.

Zu Recht bemerkte auch Ernesto Laclau, dass der Faschismus nicht einfach mit einer (zwar an die Macht geputschten, oft aber volksfernen) Diktatur gleichzusetzen ist. Gegenüber solch einer, häufig durch äußere Intervention eingesetzten, (Militär-)Diktatur muss die Gewaltherrschaft eines faschistischen Regimes in der Bevölkerung selbst verankert sein und dort Zustimmung finden. Gewissermaßen besitzt also der Faschismus tatsächlich so etwas wie demokratische Wurzeln, auf denen er seine Legitimation im Wege einer, wenn auch noch so fragwürdigen, Volksverbundenheit aufzubauen vermag: Nachdem er sich als Populismus in der Bevölkerung hochgearbeitet hat, kann sich der Faschismus formaldemokratisch als eine Diktatur der Mehrheit verwirklichen. Dass er damit das partizipative Grundverständnis der Demokratie pervertiert, wird von der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen. Es braucht also nicht zu verwundern, dass der Faschismus auch und gerade durch demokratische Wahlen an die Macht kommen kann – man denke nur an Hitler.

Um sich aber an der Macht halten und politisch stabilisieren zu können, ist für faschistische Regime eine permanente Inszenierung ihrer Volksverbundenheit erforderlich. Darauf hat im Besonderen Walter Benjamin hingewiesen, der hier von einer Ästhetisierung der Politik als Politikersatz sprach. Diese ritualisierten politischen Inszenierungen sind aber nicht bloßer herrschaftlicher Selbstzweck. Sie verdecken vielmehr ein paradoxes Verhältnis der autoritären Führung zu den demokratischen Strukturen, welche im Grunde nur wegen ihrer Publikumswirksamkeit in Anspruch genommen werden. Dem entspricht auch der forcierte Einsatz von Plebisziten, die als unmittelbarer Ausdruck des (als einheitlich imaginierten) Volkswillens verherrlicht werden. Von dieser Position aus ist es ein Leichtes, alle indirekten demokratischen Strukturen als bürokratisch zu diffamieren. Diese Strukturen können dann jederzeit aus inhaltlichen, den sogenannt legitimen, gegenüber den "bloß" formalen, den legalen Gründen aufgehoben werden.

Um aber, entgegen der hier noch unverdeckt agierenden Staatsgewalt, den zivilen Eindruck einer demokratischen Selbstbestimmung des Volkes aufrechtzuerhalten, empfiehlt es sich für die heutigen Potentaten, das Widerspruchsverhältnis von demokratischer Form und autoritärem Inhalt als einen von der Gesamtbevölkerung getragenen politischen Prozess der Strukturerneuerung erscheinen zu lassen – am besten in Gestalt eines "nationalen Aufbruchs". Hier wäre auch an die gezielt positionierten und kontextuell vorbestimmten Referenden der Marke Erdogan zu erinnern, welche den Einzelnen ihre politische Entscheidungsfreiheit mehr vorspiegeln als vermitteln sollen. Schließlich gilt heute mehr denn je: Souverän ist, wer über die Kontexte entscheidet.

Damit eröffnet sich die Möglichkeit, eine demokratische Ordnung mit ihren eigenen Mitteln – sprich: über Wahlen und Plebiszite – auszuhebeln und in Richtung einer "gelenkten", einer "illiberalen" Demokratie umzugestalten. Der Faschismus hat dadurch eine neue, eine pseudodemokratische, Erscheinungsform erlangt.

Er muss sich jetzt immer weniger offen als autoritäres Regime deklarieren, er kann auf eine mehr und mehr zivile Weise an die "Einheit des Volkes" appellieren. Hatte die Bevölkerung in den herkömmlichen autoritären Regimen einfach nur zu gehorchen, so wird ihr jetzt über pseudodemokratische Inszenierungen vermittelt, dass sie aus freien Stücken den Ansichten ihrer Führer folge und ihre selbstgewählte Unmündigkeit als eine höhere, eine moralische Form von Emanzipation anzusehen wäre. So gesehen hat sich die Bevölkerung heute nicht bloß, wie früher, regierungskonform zu verhalten, sie sollte dies vielmehr "von sich aus" tun, sie muss es auch wollen ... Dadurch ergibt sich eine Situation, in der sich zwei demokratiegefährdende Phänomene wechselseitig verstärken: die bereitwillige Selbstentmündigung der Einzelnen zum einen und die Selbstzerstörung der demokratischen Institutionen mit ihren eigenen Mitteln zum anderen.

Diese Kombination ist mittlerweile auf dem besten Wege, sich zu einem politischen System zu entwickeln, das man aufgrund seines als frei getarnten Zwangscharakters einen Faschismus höherer Ordnung, einen Faschismus 2.0, bezeichnen könnte. Dass allerdings solch ein neuer Faschismus auch den aktuellen (und durch eine ökonomische Sachzwangslogik legitimierten) psychotechnischen Lenkungsvorstellungen in den hochentwickelten Demokratien des Westens entspricht, kann kaum übersehen werden. Man denke hier nur an die politisch relevanten Nudging-Vorhaben in den USA und in Europa. (Peter Moeschl, 18.5.2017)