In Lottmanns "Alles Lüge" wird man in 50 Jahren nachlesen können, wie es damals war.

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Joachim Lottmann, "Alles Lüge". € 12,40 / 352 Seiten. Kiwi-Verlag, 2017

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Der extrem gut aussehende Johannes Lohmer trinkt Schnaps aus einer gelben Shampooflasche, die er als Flachmann stets mit sich führt, immerhin hat er sie vorher gut ausgespült. Wir schreiben das Jahr 2015, europäisches Schicksalsjahr. Bald wird uns alles um die Ohren fliegen, bald werden sich ganze Staaten auflösen und die EU gleich mit dazu. Der Grund? Die Flüchtlingskrise! Da kann ein kräftiger Schluck aus der Shampooflasche nicht schaden.

Johannes Lohmer, Anfang 60, Schriftsteller und wohl Alter Ego des Autors Joachim Lottmann, mäandert durch dieses bewegte Jahr, hält sich mal in Wien auf, mal im Szene-Berlin, zu Anfang des Buches in Athen, obwohl "doch jeder Leser weiß, wie hundsanstrengend eine Reise in ein fremdes Land ist!". Dort interessiert ihn die Euro-Krise und "die kommunistische Regierung oder so was in der Art", welche dort gerade regiert. Das private, über Internet gebuchte Quartier ist aber eine teure "Kloake", und Lohmer hat bald die Schnauze voll. Die Weiterreise mit der ebenfalls extrem gut aussehenden Gattin auf das "bizarre, sumpffieberverseuchte Kreta" lehnt er konsequenterweise ab. Dort gibt es nämlich nur "noch mehr Mücken, noch mehr Malaria und erst recht keine Tankstellen". Alles zusammen würde unweigerlich zum lange erwarteten Herzinfarkt führen.

Seine Gattin Harriet ist Redakteurin beim Nachrichtenmagazin Format, mit "Kopfweh, Fieber, Nebenhöhlen und Melancholie" ist sie vorzüglich beschrieben. Obwohl als investigative Journalistin von Islamisten selbst ständig an Leib und Leben bedroht, plädiert sie "für die Völkerverständigung, den Frieden und den Eierkuchen". Gegen sie traut sich Lohmer kaum aufzumucken. Tut er es doch, muss er sich anhören: "Ach, wie interessant, so denkst du also. Schön, das mal zu erfahren!"

Für Muslime, gegen Islam

Wie aber denkt er denn, dieser Johannes Lohmer? Grob umrissen ist er für Muslime, aber gegen den Islam, und das war "auch schon im Sommer meine Parole!". Solch feine Differenzierung ist aber nicht gefragt in diesem Jahr, in dem sich beide Seiten, die Gutmenschen und die etwas schlechteren, einbunkern und sich mit Stehsätzen bewerfen: "Menschen sind Menschen und alle gleich!", muss Lohmer sich anhören, oder: "Wenn du nicht auf der Stelle erklärst, dass Islam und Islamismus etwas vollkommen anderes, ja sogar vollkommen gegensätzlich sind, beende ich das Gespräch. Dann wäre es nämlich niveaulos!"

Joachim Lottmann hat in Alles Lüge die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 auf hohem Niveau abgearbeitet, erfreulicherweise nicht mit den Mitteln der verbiesterten Rechthaberei. Wie ein guter Boxer lässt er seinen Helden Lohmer Wirkungstreffer in alle Richtungen verteilen, in einem einzigen Absatz kann dieser Lohmer abgrundtief verachtend und herzerwärmend zärtlich zugleich sein. Um eine falsche Fährte auszuschildern (oder um die Latte hoch genug zu legen?), hat er das Buch Michel Houellebecq gewidmet, dem griesgrämigen Thailand-Dauerurlauber und Islamophobiker. Lottmanns Blick auf die Welt in den Zeiten der Krise ist aber ungleich vielfältiger und nicht so endzeitlich verbittert wie der des Franzosen. Lohmers Suche nach einer Haltung zu den ganzen Flüchtlingen, von denen er gerne eine Million haben möchte, vier Millionen aber bitte nicht, ist so ehrlich wie verzweifelt, so saukomisch wie todtraurig.

Dabei bedient Lottmann einschlägige Erwartungen gleichermaßen, wie er sie unterläuft: Er lässt seinen Helden tief in den Schmutzkübel greifen, wenn dieser über kommende Sexualstraftäter unter den Ankommenden schwadroniert, schickt ihn aber auch "Flüchtlinge einsammeln" an die burgenländische Grenze, wo ihm die "jungen Heroen aus Aleppo" deutlich sympathischer erscheinen als die verschwitzten und fetten Österreicher. Als die Gattin jedoch selbst Flüchtlinge aufnehmen will, gibt Lohmer zu bedenken: "In die Gästewohnung? Dann wohnen gleich alle elf dort! Nehmen wir sie lieber in die Hauptwohnung." Womit treffend das Milieu umschrieben wäre, in dem diese mit Vorurteilen und dem bemühten Kampf dagegen spielende Groteske angesiedelt ist.

Liebe in Zeiten der Krise

Gott sei Dank hat Lohmer eine eigene Fluchtwohnung in Berlin, in die er sich zum "Klassiker-Lesen" zurückziehen kann. Mehr als eine Seite von dem Zeug schafft er aber nie, er hat ja selbst gerade ein Buch geschrieben, in dem er wieder mal alle Freunde beleidigt hat, und arbeitet nun an "Der zweite Faschismus", womit er den islamischen meint. In Berlin wird er ständig abgelenkt, zählt er sich doch zu den "100 oder 200 jungen Kreativen, die das Rückenmark der Berliner Republik ausmachen, ohne es zu wissen".

Buchpräsentationen sind nur dann gelungen, wenn man erfreut berichten kann, dass Zeit-Kritiker Ijoma Mangold da war. Dieses Berlin ist voller "Rasse-Weiber", "Bomben im Bett", "absoluter Granaten", gleichzeitig tauchen immer wieder die Draschan-Brüder auf, in Wiens Café Anzengruber weltbekannte Künstler, sie erscheinen hier wie aus der Welt gefallene Figuren in einem guten Film der Gebrüder Coen. Zwischendurch fliegt Lohmer gerne mal nach Wien und schaut der "Springmaus" Mavie Hörbiger im Burgtheater auf die "hübschen, kleinen Titten". – "Wirklich gut, dass wir die erste Reihe genommen haben!", raunt er einem befreundeten Feuilletonisten zu. Besser kann man "den Betrieb" nicht beschreiben.

Lottmanns hochkomischer, stets nahe am Voyeurismus schrammender Blick auf das zunehmend verblödende, im eigenen Saft schmorende Kulturleben, das er den anstürmenden Flüchtlingen quasi als mahnende Endstufe unserer sterbenden, lendenlahmen Gesellschaft gegenüberstellt, ist daher vielleicht noch gelungener als der auf die Flüchtlingskrise selbst. Dass Lottmann die "Lösung" des ganzen Schlamassels am Ende ausgerechnet in die Hände des "smarten Außenministers Kurz" legt, darf man ihm getrost nachsehen, hat er uns doch über weite Strecken des Buches mit Wahrheiten der Sorte "Jazz war für mich schon immer das Gegenteil von Musik" verwöhnt. Oder er hat uns detailliert nachgewiesen, warum der rechte Bestsellerautor Thilo Sarazin nicht "pauschalisiert", sondern "bis zum Umfallen differenziert".

Da ist Lohmer gerade mit Cousin Spundi unterwegs nach Pinkafeld, um den "kommenden Bundespräsidenten Hofer" zu besuchen. In Wahrheit wurde es Hofer dann doch nicht, aber in Alles Lüge wird man auch in fünfzig Jahren noch nachlesen können, wie es "damals" war: Als Lohmer mit seiner Harriet dann doch noch Kinder wollte, "kleine Antifaschisten, von Anfang an", um dem "Islamismus in der grauslichen Stadt Berlin" entgegenzutreten. Denn Liebe war die einzig richtige Antwort, auch in jenen stürmischen Zeiten. (Manfred Rebhandl, 20.5.2017)