Der Überlebende Primo Levi machte sich Sorgen, dass der Holocaust vergessen wird.

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Primo Levi: "So war Auschwitz. Zeugnisse 1945- 1986". € 24,70 / 303 Seiten. Hanser, 2017

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In seinem letzten Interview, kurz vor seinem Tod 1987, hat Primo Levi betont, dass er ein positiv denkender Mensch sei und nicht unter Depressionen leide. Zuletzt hatte er sie doch, und er litt so schwer darunter, dass er in einem Brief an eine Freundin in Amerika den unglaublichen Satz schrieb, dass, was er jetzt durchmache, schlimmer sei als Auschwitz. Wenige Wochen später stieg er eines Morgens in das oberste Stockwerk seines Turiner Wohnhauses und stürzte sich über das Geländer. Er hatte Auschwitz um 42 Jahre überlebt. Zuletzt hatte ihn das Lager wieder eingeholt.

"Man überlebt nicht alles, was man überlebt", heißt es bei Ilse Aichinger. Dabei war Auschwitz für Primo Levi, den Häftling Nr. 174517, so befremdlich das auch klingt, eine "Bereicherung", die ihn gelehrt habe zu leben: "Meine wahre Universität", schrieb er in seinem letzten Buch 1986, "war Auschwitz." Ein kühner Satz, und doch war das Lager, diese "monströse Verkehrung" und "scheußliche Anomalie" seiner Lebensgeschichte, zugleich die wichtigste Prägung, sie hat sein Schreiben initiiert, weil er sich verpflichtet sah, vom Unerhörten zu erzählen, und sie hat es bis zuletzt bestimmt. Seine beiden autobiografischen Berichte "Ist das ein Mensch?" und "Die Atempause" machten ihn weltberühmt, und auch in seinem letzten, ein halbes Jahr vor seinem Tod erschienenen Buch "Die Untergegangenen und die Geretteten" setzt er sich noch einmal intensiv mit der Frage des Überlebthabens, der Schuld, der Erinnerung auseinander. Vielleicht der elementarste Essay, der je über Auschwitz geschrieben wurde, und zweifellos die Summe seines Werkes.

In den 42 Jahren seines Überlebens ist aber auch eine Vielzahl an Texten entstanden, die entweder nie veröffentlicht wurden oder schnell in Vergessenheit gerieten, allesamt eindrückliche, authentische Zeugnisse, die nun erstmals gesammelt auf Deutsch erscheinen: Artikel, offizielle Stellungnahmen, Reden, Zeugenaussagen für Anklageschriften und Prozesse (gegen Höß, Mengele, Eichmann), Nachrufe oder kleine Porträts, wie etwa das der jungen Partisanin Vanda, einer kleinen, sanftmütigen jungen Frau, die Levi zuletzt auf dem Bahnsteig in Auschwitz gesehen hatte.

Die Frage des Überlebthabens

Der früheste der insgesamt 28 Texte stammt noch aus der Zeit unmittelbar nach der Befreiung: Im April 1945 wurde Levi im Krankenlager von Kattowitz Assistent eines italienischen Arztes, der selbst nur durch Zufall überlebt hatte. Gemeinsam mit ihm verfasste er für die sowjetische Regierung einen Bericht über die medizinische Versorgung in Monowitz, dem Lager Auschwitz III, in dem Levi elf Monate lang Häftling gewesen war. Eine Arbeit, die im Auftrag entstand und in ihrer Aufgabenstellung nahelegt, dass die Sowjets mehr an der mangelhaften Gesundheitsfürsorge im Lager interessiert waren als an der systematischen Ermordung in den Gaskammern – von der Levi und der Arzt aber ebenso gewissenhaft berichten wie von den häufigsten Krankheiten und ihren Behandlungsmöglichkeiten. Freilich bedeutet auch "medizinische Versorgung" in diesem Fall nichts anderes als "kontrollierte Vernichtung".

Eines der berührendsten Zeugnisse stammt aus dem Jahr 1959, damals fand in Turin, fünfzehn Jahre nach Auschwitz, eine Ausstellung über Konzentrationslager statt, die eine Mittelschülerin erschrecken ließ. Sie schrieb einen Leserbrief an La Stampa, in dem sie sich als "Tochter eines Faschisten" deklarierte, "die die Wahrheit wissen will", von ihren Lehrern habe sie nämlich außer einem Seufzer und einem "leider" nichts erfahren. Primo Levi antwortete umgehend, er hatte eine solche Reaktion geradezu "erhofft": "Nein, Signorina, an der Wahrheit dieser Bilder kann es keinen Zweifel geben." Und: "Schweigen ist ein Fehler, fast ein Verbrechen."

In Auschwitz hatte Levi immer denselben Angsttraum gehabt: Er kommt nach Hause, erzählt vom Lager, aber niemand hört ihm zu. Später hat er mit seinem ersten Buch zunächst keinen Verlag gefunden – das interessiere niemanden, wurde ihm beschieden. 1955 beklagte er in einem Text, dass "das Thema der Vernichtung" bereits wieder "im Begriff ist, dem kompletten Vergessen anheimzufallen". Der Überlebende machte sich Sorgen, dass der Holocaust nicht als Mahnung im Gedächtnis zurückbleiben würde. Das war nur zehn Jahre nach Auschwitz. In diesem Punkte irrte Levi, dennoch forderte er bis zuletzt Wachsamkeit ein. 1975 schrieb er jenen Zeitungsartikel "So war Auschwitz", der dem Buch den Namen gibt und der sich einmal mehr "gegen das Vergessen" richtet. Und noch im letzten Text aus dem Jahr 1986, ein Vortrag, den er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt hielt, mahnte er die "moralische Pflicht" der Überlebenden und Zeugen ein, "umfassend und wahrhaftig Auskunft zu geben".

Das tut dieses Buch auf überzeugende Weise, die sich eigentlich von selbst versteht. Mehr als siebzig Jahre nach Auschwitz ist es nicht nur dringlich und notwendig: Es öffnet auch wieder den Blick auf das so bedeutende Werk Primo Levis, das ebenso authentisches Zeugnis wie atemberaubende Literatur ist. Wer noch nie "Ist das ein Mensch?" gelesen hat, der soll das bitte jetzt, im Anschluss an diese zweifellos wichtige Textsammlung, unbedingt nachholen. (Gerhard Zeillinger, 21.5.2017)