Birmingham in Alabama ist wie die englische Namensschwester eine von der Industrie geprägte Stadt.

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Henry Gipson spielt in Alabama Blues-Gitarre in seinem Juke-Joint Gip's Place.

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Die Wände des einfachen Lokals sind geschmückt mit Erinnerungen an Musiker wie Muddy Waters oder John Lee Hooker.

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Juke Joints spielten zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des Blues, da die ersten Bluesmusiker häufig dort auftraten.

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"Rollin' – rollin' on the river", röhrt die füllige Sängerin Die Dra mit ihrem silbernen Krönchen druckvoll ins Mikro. Die Gäste, die Gip's Place bis auf den letzten Platz füllen, springen auf und tanzen los. Manche allein, andere mit völlig fremden Tischnachbarn. Sie wiegen sich im Rhythmus des Songs "Proud Mary", eines typischen Südstaatenlieds, einer Ode an einen alten Schaufelraddampfer auf dem Mississippi. Geschrieben 1968 von John Fogerty, einem weißen Kalifornier, zwei Jahre später von Ike und Tina Turner mit Verve interpretiert.

Nun singen alle mit, drängeln sich um die bunten Tische auf den wenigen Quadratmetern Tanzparkett vor der Bühne: Schwarze und Weiße, Pensionisten, Arbeiter, Leute aus der Nachbarschaft, Kunststudenten, Exzentriker, Bohemiens – und, seit Gip's Place auch in sozialen Netzwerken die Runde macht, sogar Touristen aus aller Welt.

Ein Langzeitüberlebender

Es ist ein rauschhafter Augenblick, in dem Menschen, so grundverschieden sie auch sind, eine gute Zeit miteinander haben und sich ohne Vorbehalte bei guter Musik amüsieren. Mitten in Alabama, dem US-Bundesstaat mit seiner langen Historie von Sklaverei, Rassentrennung und tief sitzendem Rassismus. Mitten in Alabama, wo fast zwei Drittel der Bevölkerung für Donald Trump als Präsident gestimmt haben.

"Hier spielt die Hautfarbe keine Rolle, hier sind wir alle gleich", sagt Henry Gipson, ein hagerer Afroamerikaner mit markanten Wangenknochen und so zahnlosem wie einnehmendem Lächeln, der jedem das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Schon seit über 60 Jahren ist er der Gastgeber von Gip's Place. Wie alt er ist, darüber wird ebenso spekuliert wie über die Zahl seiner Kinder. Es heißt, er hätte seinen 86. Geburtstag schon ein paar Mal zu oft gefeiert. Geht es nach seiner Familienbibel, ist er wohl 96 und mit seinem sogenannten Juke-Joint ein Langzeitüberlebender.

Im Hinterhof Birminghams

Gip's Place ist einer der letzten Orte dieser Art – nicht nur in Alabama, sondern überhaupt in den Südstaaten. Bis in die 1960er-Jahre trafen sich Afroamerikaner im damals rassengetrennten Süden in einfachen Lokalen, die als Juke-Joints bezeichnet werden und untrennbar mit der Entstehung des Blues verbunden sind. Im Unterschied dazu gingen Weiße vorwiegend in Bars, die sie Honky Tonk nannten. Erst mit dem Busboykott von Montgomery, Alabama, ab 1955 sollte sich das ändern. Rosa Parks weigerte sich damals, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen Weißen zu räumen. Sie wurde verhaftet und die afroamerikanische Bevölkerung der Stadt boykottierte infolge dreizehn Monate lang das Busunternehmen. Der Boykott wird als Geburtsstunde der Bürgerrechtsbewegung angesehen.

Gip's Place startete in den frühen 1950ern in einem Hinterhof in der Stadt Bessemer bei Birmingham, der größten Stadt Alabamas. Lange Zeit stand dort nur ein Zelt. Erst im Lauf der Zeit wurde etwas zusammengezimmert und erweitert, weil immer mehr Leute die familiären Blues-Sessions erleben wollten. Authentisch wirkt der Juke-Joint mit Wellblechdach bis heute. Das liegt vor allem an Gipson selbst, diesem Ein-Mann-Ereignis, und an der bodenständigen Kauzigkeit des Ortes.

Spende statt Eintritt

Die Holzwände im Inneren sind fast lückenlos mit alten Konzertplakaten, Autogrammen und Erinnerungsfotos an Gipsons Begegnungen mit Musikern tapeziert. Draußen um die Ölfässer, aus denen an kalten Abenden wärmende Flammen züngeln, liegt ein Sammelsurium aus Schrott und ausrangiertem Zeugs. "Bei Dunkelheit macht all das Gip's Place zu einem magischen Ort", sagt Tom, ein Witwer aus der Nachbarschaft, der den Blues liebt, oft herkommt und hie und da mit anpackt. Seit ein paar Jahren gehört er zur Gip's-Community. Genauso wie Bay, die seit Jahrzehnten mit Gipson befreundet ist und an diesem Abend penibel darauf achtet, dass jeder zehn Dollar bezahlt – obwohl kein Eintritt, sondern nur eine Spende zu entrichten ist.

Henry Jacobs

Wie das mit seinem Juke-Joint angefangen hat, kann Gipson gar nicht genau erklären. "Es ist einfach passiert, weil die Menschen einen Ort suchten, wo sie die Probleme des Alltags für ein paar Stunden hinter sich lassen können", sagt er. "Ich habe das aufgegriffen – und liebe Musik." Vor allem die von Muddy Waters oder John Lee Hooker.

Leben zwischen Friedhöfen

Schon am frühen Abend sitzt Gipson auf einem Sessel, versteckt in einer Ecke der Bühne und spielt Gitarre. "Hey, heute sind da zwei, die sind extra aus Europa hergekommen", sagt er ins Mikro. Es ist eine schwer verständliche Mischung aus Zahnlosigkeit und breitem Südstaatendialekt. Dann beginnt er, über sein Leben zu reden.

"Der Blues half mir, die Härten des Lebens zu vergessen", erinnert er sich. Schon als kleiner Bub schlich er sich aus dem Elternhaus, um Musikern aus der Gegend zuzuhören. Als er zwölf Jahre alt war, begann er schließlich, Gitarre zu spielen. Er macht Jesus, Gott und seinen Glauben zum Thema und auf sehr persönliche Weise das Ertrinken seines Bruders. Bis heute ist der Bluesman auch Totengräber. Er besitzt drei Friedhöfe, für die er vor langer Zeit drei Dollar bezahlte. "Ich dachte, ich hätte nur den Pine Hill Cemetery gekauft – von den anderen beiden habe ich erst durch einen Anwalt erfahren", sagt Gipson, der immer noch selbst Gräber schaufelt und sich nun wieder ins Gitarrenspiel vertieft.

Protest gegen Schließung

Die Musikerin Die Dra und ihre Bluesband bauen derweil für den Auftritt auf, und die Instrumente werden gestimmt, während die ersten Gäste eintrudeln, die den Weg in das ländlich wirkende Wohngebiet gefunden haben. Da Gip's Place kein kommerzieller Veranstalter ist, dürfen keine Getränke verkauft werden. Viele haben sich kleine Kühltaschen mit Bierdosen mitgebracht, und Tom reicht Schnapsgläser mit selbst gebranntem Moonshine-Schnaps herum. Um kurz nach halb neun geht es dann los. Erst ein kurzes Gebet, ohne das in Gip's Place kein Abend beginnt, dann legen sich die Musiker ins Zeug. Zur Freude des Publikums zupft der Gitarrist die Saiten immer wieder mit der Zunge, ganz so, als würde er sein Instrument küssen. Danach jammt er mit Gipson, der dabei sichtbar aufblüht.

State of the Re:Union

Vor ein paar Jahren hätte die Geschichte von Gip's Place beinahe ein Ende genommen. Die Stadt Bessemer wollte den Juke-Joint schließen. Es ging um Beschwerden wegen Lärms, Mülls und zu vieler Gäste, die die Straße des kleinen Wohnviertels mit ihren Autos blockierten. Doch die Unterstützung für Gipson war groß – und der Protest gegen die Schließung erfolgreich. Nur bis in die frühen Morgenstunden dürfen die Musiker seitdem nicht mehr jammen. Um Mitternacht ist Schluss.

"Mr. Gip ist der Einzige, der nach Mitternacht noch spielen darf", sagt die Sängerin Die Dra nach ihrem Auftritt. Dann löst sich die Gesellschaft langsam auf, bis Henry Gipson wieder ganz alleine am Rand der Bühne hockt und in sich versunken die letzten Akkorde für diese Nacht zupft. "Schaut unbedingt wieder vorbei, wenn ihr in Alabama seid", sagt der alte Mann fröhlich zum Abschied und meint es auch so. Für Gipson scheint diese Juke-Joint-Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben. Er hat nicht den Blues, er spielt ihn nur. (Sascha Rettig, RONDO, 27.5.2017)