"Letztlich werden uns digitale Technologien helfen zu verstehen, wie sich Wirkstoffe auf Patienten auswirken", sagt James Bradner, Chef von rund 6000 wissenschaftlichen Mitarbeitern bei Novartis. Allein 400 davon sind Computerwissenschafter.

Foto: Corn

James Bradner über Open-Source-Krebsforschung bei einem Ted-Talk 2011 in Boston.

TED

Wien – Als James (Jay) Bradner und sein Team 2010 ein Molekül entwickelten, das imstande war, Krebszellen so zu blockieren, dass ihr Wachstum gestoppt wurde, war das eine kleine Sensation. Als Bradner sich dann entschloss, das Molekül samt seiner Bauanleitung offenzulegen und Proben an Labors in aller Welt zu schicken, wurde der Harvard-Forscher zu einem gefeierten Open-Source-Pionier. 2015 folgte der nächste Streich: In einem Science-Paper stellte er eine Technologie vor, mithilfe deren krebsfördernde Proteine in Tumorzellen nicht nur blockiert, sondern gleich zerstört werden. Dazu haben Bradner und sein Team am Dana-Farber-Krebsinstitut der Harvard Medical School in Boston einen Adapter entwickelt, der dafür sorgt, dass Medikamente an "böse" Proteine andocken und sie kurzerhand zur zelleigenen Müllabfuhr transportieren – mit durchschlagenden Erfolgen bei der Eindämmung von Blutkrebs bei Mäusen. Im Vorjahr wechselte Bradner zum Pharmariesen Novartis, wo er die Institutes for Biomedical Research leitet.

STANDARD: In einem Vortrag zu Ihrer Open-Source-Strategie (Video zum Ted-Talk siehe links) betonten Sie, dass Sie in Ihrem Harvard-Labor Möglichkeiten hatten, die keine Pharmafirma hat, nämlich Moleküle mit anderen Forschern zu teilen, um die Medikamentenentwicklung voranzutreiben. Warum haben Sie die Fronten gewechselt und arbeiten nun für die Pharmaindustrie?

Bradner: Es stimmt, dass industrielle Pharmaforschung typischerweise sehr abgeschottet ist. In meinem Labor hatten wir die Möglichkeit, damit zu experimentieren, wie wir Wissenschaft betreiben – ein soziales Experiment, um herauszufinden, was passiert, wenn wir Moleküle in einem Frühstadium der Entwicklung an andere Forscher weitergeben, ein Stadium, in dem so etwas normalerweise geheim gehalten wird. Es hat sich gezeigt, dass sich die Forschung dadurch deutlich beschleunigt hat. Es ist untypisch für einen Harvard-Forscher, so etwas zu sagen, aber: Andere Leute haben vielleicht bessere Ideen. Ich bin überzeugt, dass Novartis genau deshalb an mich herantrat, weil sich die Geschäftsführung offenere Rahmenbedingungen vorstellen kann.

STANDARD: Eine Offenlegung von Forschungsergebnissen wird aber wohl nicht mehr möglich sein?

Bradner: In der wissenschaftlichen Strategie für die nächsten zehn Jahre, die ich für Novartis ausgearbeitet habe, ist auch die Öffnung der Strukturen verankert. Wir wollen Partnern in der Wissenschaftscommunity den Zugang zu unseren Technologien erleichtern und enger mit ihnen zusammenarbeiten, um schneller Medikamente gegen lebensbedrohliche Krankheiten zu entwickeln und schneller jene Patienten zu identifizieren, die am wahrscheinlichsten von den Medikamenten profitieren können. Man würde es nicht glauben, aber einige unserer profitabelsten Medikamente helfen Patienten aus Gründen, die bei der Entwicklung nicht vorhersehbar waren.

STANDARD: Es ist genau zwei Jahre her, dass Sie Ihre Arbeit über die Zellmüllabfuhr veröffentlicht haben. Wie weit ist es noch, bis daraus Therapien gegen Krebs resultieren?

Bradner: Es ist ein gewaltiger Akt, Proteinziele zu zerstören, um so eine Krankheit zu heilen. Vor zwei Jahren präsentierten wir die erste chemische Lösung dafür, einen Prototyp, der imstande war, das Protein an die professionelle Müllabfuhr der Zelle anzubinden. Diese Moleküle sind medikamentenähnlich in ihrer Größe und ihrem Verhalten. Jetzt wollen wir bei Novartis die Technologie nutzen, um mehr als 20 neue Proteinziele anzugreifen. Wir sind in der Phase der Prototypen-Optimierung. Ich erwarte klinisch testbare Wirkstoffe innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre.

STANDARD: Was sind die Risiken?

Bradner: Die Umwandlung in echte Medikamente ist eine große Herausforderung. Wir sind zugegebenermaßen unsicher, ob so ein Molekül von Menschen gut vertragen wird. Wir wissen es einfach nicht. Die Arbeit, das herauszufinden, wäre sehr schwer durchführbar in meinem alten Labor in Harvard.

STANDARD: Was werden die Krankheiten sein, auf die Sie mit dieser Proteinzerstörung abzielen?

Bradner: Wir haben diesen Mechanismus kreiert, um Blutkrebs heilen zu können. Aber ich bin davon überzeugt, dass er breit anwendbar ist, etwa auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Huntington. All diese Krankheiten sind gekennzeichnet durch die Ansammlung toxischer Proteine. Wir wollen erforschen, ob wir auch sie binden und zerstören können.

STANDARD: Die Biomedizin verändert sich rasant. Was bringen digitale Technologien und Entwicklungen wie die Genomeditierung mit der CRISPR/Cas-Methode für die Medikamentenentwicklung?

Bradner: Bei Novartis verwenden wir die CRISPR-Genomeditierungsmethode, um die mechanistische Aktivität und auch die Toxizität von Medikamenten zu verstehen, die Proteine zerstören. Darüber hinaus sind wir daran interessiert, Medikamente auf Basis von CRISPR zu entwickeln, um Mutationen zu korrigieren, die mit Krankheiten in Verbindung stehen. Wie andere auf dem Gebiet der Pharmaforschung verwenden wir digitale Technologien. Von unseren rund 6000 wissenschaftlichen Mitarbeitern sind allein 400 Computerwissenschafter. Die Kapazität von Cloudspeicherung und die Möglichkeiten von maschinellem Lernen ermöglichen es, die riesigen Datenmengen zu durchforsten, die wir über die Forschung an synthetischen Molekülen der letzten 100 Jahre haben. Es geht darum herauszufinden, wie spezifisch ein Molekül für ein gewünschtes Ziel passt. Hemmt es andere Ziele oder Signalwege? Letztlich werden uns digitale Technologien helfen zu verstehen, wie sich die Wirkstoffe auf Patienten auswirken.

STANDARD: Was bedeutet das für die Zukunft der Pharmaforschung?

Bradner: Erstens: Ich erwarte, dass in den nächsten zehn Jahren die Geheimnisse der Ursachen von Krankheiten verstanden sein werden. Auf der Molekularebene werden wir eine hochqualitative Liste von Zielen haben, für die wir Medikamente machen können. Zweitens: Proteine, die momentan nicht behandelbar sind, also keine Angriffspunkte haben, für die passende Moleküle entwickelt werden können, werden behandelbar sein. Derzeit ist es so, dass wir bei manchen Krankheiten ganz genau wissen, welches Medikament man brauchen würde, wir können es aber nicht herstellen. Uns fehlen die nötigen Technologien. Möglicherweise gibt es kein Schlüsselloch, in das wir ein Molekül einführen können, um auf- oder zuzusperren. Wir nehmen an, dass ein neuer Medikamententyp sich einfach an ein Protein anhängt und es so zerstört.

STANDARD: Welche Rolle werden dabei OpenSource-Ansätze spielen? Ist eine Öffnung der Forschung überhaupt realistisch?

Bradner: Junge Wissenschafter heute sehnen sich nach Netzwerken, sie nutzen Social Media und haben tausende Freunde auf Instagram und Facebook. Sie sind es gewohnt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und das wirkt sich auch auf ihre Forschung aus. Das stimmt mich optimistisch, dass das grundlegende Verhalten der Menschen kombiniert mit der eindeutigen Beschleunigung von Technologie, wenn sie offen angewandt wird, generell zu einer offeneren Art der Forschungspraxis führen sollte – auch wenn es noch große Hürden dafür gibt. Ich bin hoffnungsvoll. (Karin Krichmayr, 25.5.2017)

James Bradner ist Präsident der Novartis Institutes for Biomedical Research. Von 2005 bis 2016 forschte der Onkologe an der Harvard-Universität. Vergangene Woche war er auf Einladung des Forschungszentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, wo er eine CeMM Landsteiner Lecture hielt.