Mit seinem riesenhaften Maul schaufelt der Blauwal tonnenweise Krill in sich hinein.

Foto: Silverback Films/BBC

Als sich das Plankton zu Beginn der Eiszeit umverteilte, erwies sich Körpergröße für die Wale offenbar als evolutionärer Vorteil.

Foto: Silverback Films/BBC.

Washington/Wien – Denkt man an tierisches Riesenwachstum, fällt einem üblicherweise spontan die Ära der Dinosaurier ein. Das Erdmittelalter kann tatsächlich mit einigen Rekorden aufwarten, der Titel des größten Wirbeltieres aller Zeiten allerdings geht an ein Wesen, das nicht etwa vor Millionen von Jahren existierte, sondern heute durch die Ozeane pflügt: Der Blauwal übertrifft mit einer Länge von bis zu 33 Metern und einem Höchstgewicht von 200 Tonnen alles bisher Dagewesene.

Noch vor wenigen Jahrhunderten dürften Hunderttausende Blauwale die Weltmeere bevölkert haben. Als der industrielle Walfang mit seinen Harpunierkanonen im 19. Jahrhundert einsetzte, begann der Niedergang dieser Art. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es noch über 200.000 Tiere. Anfang der 1960er Jahre blieben davon höchstens 3.000 Exemplare übrig. Seither hat sich der Bestand dank der Schutzbestimmungen weltweit wieder etwas erholt. Man schätzt ihn aktuell auf 10.000 bis 25.000 Stück.

Als Bartenwal filtert der Blauwal mit bis zu 400 ausgefransten Hornplatten Plankton aus dem Meer und bevorzugt dabei den wenige Zentimeter großen Antarktischen Krill, den er mit seinem enormen Maul gleich tonnenweise aufnehmen kann. Am Ursprung des Wal-Stammbaumes dürfte nach bisherigen Erkenntnissen vor rund 50 Millionen Jahren ein etwa wolfsgroßer Paarhufer gestanden haben. Seine unmittelbaren Nachfahren fanden den Weg zurück ins Meer, weitere 20 Millionen Jahre später spalteten sich die Bartenwale von den Zahnwalen ab und wuchsen schließlich zu jener Größe heran, die man heute kennt.

Video: Dank einer an der Seite eines Blauwals angebrachten Kamera ist man Gast am Mittagstisch des Meeresriesen und kann miterleben, wie er Krill verschlingt.
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Rätselhaftes Wachstum

Wie dieses Wachstum abgelaufen ist und vor allem warum die Bartenwale solche enormen Körperumfänge erreichen, ist allerdings unklar, was hauptsächlich an den Schwierigkeiten liegt, denen sich Paläontologen bei der Interpretation der oft unvollständigen Fossilien früherer Walvertreter gegenübersehen. Einem Team um Nicholas Pyenson vom National Museum of Natural History (Washington, D.C.) ist es nun gelungen, anhand fossiler Walschädel verlässliche Kriterien zur Bestimmung der ursprünglichen Gesamtkörperlänge zu finden – und damit zugleich das Rätsel um die Größe der Bartenwale zu lösen.

Die Wissenschafter verglichen die fossilen Überreste von 63 ausgestorbenen Walarten der letzten 30 Millionen Jahre und stellten sie 13 rezenten Spezies gegenüber. Das Ergebnis verblüffte Pyenson und seine Kollegen: Die Daten weisen deutlich darauf hin, dass Bartenwale bis vor erdgeschichtlich kurzer Zeit ausschließlich aus vergleichsweise kleinen Arten bestanden. Die gewaltigen Meeresriesen unserer Tage dagegen entwickelten sich demnach erst in den vergangenen zwei bis drei Millionen Jahren.

Vorteilhafte Körpergröße

Wie die Forscher in den "Proceedings of the Royal Society B" berichten, entstanden die ersten Großwale mit Körperlängen jenseits der Zehn-Meter-Marke vor 4,5 Millionen Jahren – und zwar gleich mehrfach in unterschiedlichen Zweigen des Bartenwal-Stammbaums. Kleinere Verwandte verschwanden dagegen zu dieser Zeit. Die Paläontologen spekulieren, dass damals etwas geschehen sein muss, das Bartenwalen ab einer gewissen Körpergröße einen Überlebensvorteil verschaffte.

Und Pyenson hat auch eine Vermutung, was das gewesen sein könnte: Da der evolutionäre Wandel mit dem Beginn der Eiszeit zusammenfällt, dürften Veränderungen bei der globalen Umverteilung der Nahrungsressourcen eine Rolle gespielt haben. Die zunehmende Vergletscherung der Polregionen führte demnach zu einem an Jahreszeiten gebundenen Nährstoffüberfluss in einigen Küstengewässern, was wiederum regionale und saisonale Planktonblüten hervorbrachte. Es fand also ein Wandel von einem gleichmäßiger verteilten zu einem lokal und zeitlich konzentrierten Nahrungsangebot statt.

Nachdem Filtrier besonders effektiv sind, wenn sie durch dichte Beutewolken schwimmen, wurde diese Form der Nahrungsaufnahme umso effizienter, je größer das Tier und sein Maul sind. Darüber hinaus sind größere Wale auch besser in der Lage, die großen Distanzen zurücklegen, um sich bei den saisonal reichen Futterquellen einzufinden. Das dürfte letztlich das Größenwachstum der Bartenwale begünstigt haben, meint Pyenson. (Thomas Bergmayr, 28.5.2017)