Großbritannien trauert um die Opfer von Manchester.

Foto: AFP/Stansell

Es sind die herzzerreißenden Suchappelle verzweifelter Eltern, die an diesem Dienstag das ganze Ausmaß des Schreckens verdeutlichen. Tränenüberströmt hält Charlotte Campbell (36) ein Foto ihrer Tochter Olivia in die Fernsehkameras. Zu sehen ist wenig – ein hübscher Teenager, wie sie zu Tausenden am Montag in die Arena von Manchester fuhren, um ihrem Idol Ariana Grande zuzujubeln. Seit 17 Uhr an jenem Abend hat Charlotte nichts mehr gehört von ihrer Tochter. "Bitte sagen Sie der Polizei Bescheid. Irgendjemand muss sie doch gesehen haben", schluchzt die Mutter.

"Das war kein Lautsprecher-Kurzschluss"

Dutzende ähnlicher Bitten finden sich in den sozialen Medien – sie klingen umso verzweifelter, je länger der Tag andauert, und die Ahnung wächst, dass die Gesuchten zu den Opfern der Terrorattacke von Manchester gehören. Das Konzert der 23-jährigen US-Popsängerin vor ausverkauftem Haus (21.000 Plätze) war gegen 22.30 Uhr gerade zu Ende, als ein gewaltiger Knall die fröhliche Atmosphäre zerreißt. "Das ganze Gebäude erzitterte", berichtet später Joanne Johnson der BBC. "Irgendwie wusste man gleich: Das war kein Lautsprecher-Kurzschluss."

Der Eindruck bestätigt sich auf schreckliche Weise. Offenbar, so legen es die ersten Ermittlungen nahe, war es einem einzelnen Attentäter gelungen, unbehindert in die öffentliche Zone zwischen der Halle selbst und dem angrenzenden Bahnhof Manchester Victoria zu gelangen. Genau zu dem Zeitpunkt, als ihm hunderte Konzertbesucher entgegenströmten, zündete der Täter seine selbstgebaute Bombe und riss in seiner Umgebung viele mit in den Tod.

Am Dienstagvormittag bestätigte in London Premierministerin Theresa May die vorläufige Bilanz des Schreckens: Außer dem namentlich bekannten Täter, Salman Abedi, sind 22 Menschen tot, 59 teils lebensgefährlich Verletzte liegen in acht Krankenhäusern des Großraums Manchester."

Nach Angaben der Zeitung "Telegraph" wurde Abedi 1994 in Manchester geboren, als zweites von vier Kindern. Seine Eltern sollen Flüchtlinge aus Libyen sein.

Neue Kategorie der Feigheit

"Dass viele der Opfer Kinder und Jugendliche sind, verdeutlichen schon die ersten Namen der Toten. Georgina (18) stand kurz vor den Abschlussprüfungen in der Schule. Das Foto, das die Familie an die Medien gibt, zeigt das vergnügte Mädchen bei einem früheren Treffen im Arm ihres Idols Grande. Ihren Verletzungen erlegen ist auch ein achtjähriges Mädchen.Wie sehr die Attacke auf die Jugend des Landes die Briten aufwühlt, lassen die Reaktionen aus Politik und Sicherheitsbehörden ahnen. Die Regierungschefin spricht von einer "neuen Kategorie der Feigheit" und "kaltem Kalkül", mit dem es der Täter auf besonders Verletzliche abgesehen hatte. Auch die sonst eher kühlen Ermittler des Inlandsgeheimdienstes MI5 verwenden eine emotionale Sprache: Man sei "empört und angewidert" über den Bombenangriff, gibt MI5-Boss Andrew Parker zu Protokoll.

Die Fahndung nach Komplizen des Selbstmordtäters von Manchester führt noch am Dienstag zu zwei Festnahmen. An einer Adresse im Großraum der nordenglischen Metropole sprengen Experten zudem eine offenbar verdächtige Substanz in die Luft. Die Bombe des Attentäters muss, den schrecklichen Verletzungen der Opfer nach zu schließen, aus Nägeln und anderen Metallteilen bestanden haben. Die Tat beansprucht die Terrormiliz IS für sich.

Sicherheitsstufe erhöht

Premierministerin Theresa May teilte am spätem Abend mit, dass die Sicherheitsstufe von "ernst" auf "kritisch" hochgestuft werde. Das Militär werde die bewaffnete Polizei bei öffentlichen Ereignissen wie Konzerten oder Sportveranstaltungen unterstützen. Ehe May zu Mittag nach Manchester aufbricht, um sich vor Ort über den neuesten Stand der Ermittlungen zu informieren, leitet sie eine Sitzung des Krisenstabs.

Lange Terrorliste

Der Massenmord von Manchester ereignete sich zwei Monate nach der Terrorattacke von Westminster mit fünf Toten und auf den Tag genau vier Jahre nach dem Terrormord an dem unbewaffneten Soldaten Lee Rigby. Die letzte Bombenattacke mit vielen Toten liegt länger zurück: Im Juli 2005 ermordeten vier Selbstmordattentäter in der Londoner U-Bahn und in einem Doppeldeckerbus 52 Menschen, verstümmelten und verletzten weitere hunderte. Stets waren islamistische Extremisten für die Taten verantwortlich. (Sebastian Borger aus London, 23.5.2017)