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Gedenken an die Opfer des Anschlags in Manchester. In Österreich wird versucht Radikalisierung vorzubeugen.

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"Zehn sind besser als null": Sozialpädagogin Monika Ukagbanwa-Stephen kämpft in ihrer WG um marginalisierte Jugendliche. Zukunftschancen seien der beste Schutz gegen Radikalisierung, sagt sie.

Foto: Christian Fischer

Die Sozialpädagogin setzt auf praktische Maßnahmen.

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Ab der Türschwelle soll es keine Zweifel mehr geben: "Dein bester Platz ist hier, denn wir stehen zu dir." Das steht, in Schönschrift auf ein Plakat geschrieben, gleich im Vorzimmer der WG im 12. Wiener Gemeindebezirk. Für eine Wohngemeinschaft wirkt die geräumige Wohnung fast zu aufgeräumt.

Geht man weiter, etwa in die Küche, wo gerade zwei Bewohner fernsehen und einer kocht, sieht man eine Mischung aus Gemütlichkeit und Nüchternheit. An den Wänden hängen Bilder, es dominieren die Farben Orange und Gelb, die Stimmung ist fast familiär. Und doch merkt man, dies ist keine gewöhnliche WG. Und auch nicht das Zuhause einer klassischen Familie.

Sinnsprüche

Überall hängen Sinnsprüche, offenbar geschrieben von jenen, die hier die Verantwortung tragen. Etwa dieser: "Was uns am meisten interessiert, ist, was ab jetzt passiert." Das ist auch programmatisch zu verstehen. Wer hier wohnt (wohnen darf), wird ausschließlich danach beurteilt, was er ab sofort tut oder unterlässt. Nicht danach, was sich bis dato auf seinem Kerbholz angesammelt hat. Und das ist – meistens – recht viel, trotz der Jugend der WG-Bewohner: kleinere Diebstahls- und Gewaltdelikte zumeist.

Manche sind aber auch wegen Paragraf 278b ins Visier der Behörden gelangt: "Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung". Das versetzt, auch angesichts des jüngsten Terroranschlags von Manchester, die Sicherheitsbehörden in höchste Alarmbereitschaft. Denn es bedeutet, dass junge Menschen aufgefallen sind, weil sie angekündigt haben, in den Jihad ziehen zu wollen, dass sie mit Gewalt gedroht, IS-Propaganda verbreitet haben oder mit jemandem in Kontakt waren, der dies getan hat.

Manche haben bereits Haftstrafen verbüßt oder waren zumindest in U-Haft. Manche sind sogar dafür noch zu jung.

"Keine Ressource"

So wie jener Zwölfjährige, der im Jänner dieses Jahres im Zuge der Ermittlungen gegen einen 17-jährigen Terrorverdächtigen auch ins Visier von Polizei und Verfassungsschutz geriet. Konrad Kogler, Generaldirektor für Öffentliche Sicherheit, berichtete damals relativ ausführlich über den Buben – der rechtlich gesehen noch ein Kind ist. Dieser sei "in intensivem Kontakt zum 17-jährigen Terrorverdächtigen" gestanden. Was man ihm vorwerfe, wollte Kogler nicht sagen, nur so viel: "Er ist an einem Ort untergebracht, an dem er unter Kontrolle steht."

Dieser Ort war zunächst ein Krisenzentrum, später übersiedelte der Bub in eine Wohngemeinschaft, ähnlich jener im 12. Bezirk. Das Jugendamt schützt seine Identität, man erfährt dort nur, dass sein ursprüngliches Zuhause "keine Ressource" für das Kind gewesen sein soll. Soll heißen: Die Eltern hatten anscheinend den Draht zu ihrem Sohn verloren.

Keine Überraschung

Für Monika Ukagbanwa-Stephen sind Geschichten wie diese keine Überraschung: "Die meisten wissen überhaupt nicht, was sie tun. Sie eifern dubiosen Vorbildern oder Bezugspersonen aus ihrem Bekanntenkreis nach und machen sich via Whatsapp oder Facebook wichtig", sagt die Sozialpädagogin und Traumaexpertin.

Gemeinsam mit drei Kolleginnen und einem Kollegen führt sie die WG im 12. Bezirk und hat schon "ein paar kleinen Jihadisten" die Köpfe wieder gerade gerückt – oder es zumindest versucht. Ihr sei wichtig zu betonen, dass "die Dimensionen nicht verloren gehen": "Das sind Kinder. Sie geben sich stark, aber sie sind schwach."

Die meisten, auch in ihrer WG, kommen aus Familien, in denen Sprachlosigkeit und Entfremdung vorherrschen – wo Bildungsdefizite und Arbeitslosigkeit einander bedingen und die Demütigung der sozialen Ausgrenzung allzu oft mit Kriminalität, Alkohol und Drogen betäubt wird. Die Bedürfnisse von Kindern zählen in einem solchen Umfeld kaum etwas.

Marginalisierte Jugendliche

Die Wissenschafter Veronika Hofinger und Thomas Schmidinger sprechen in diesem Zusammenhang von "marginalisierten Jugendlichen". Die beiden Forscher haben im Jänner dieses Jahres im Auftrag des Justizministeriums eine Begleitstudie zum Thema "Deradikalisierung in Haft" verfasst. Zahlreiche Interviews mit Inhaftierten belegen diese Gemeinsamkeit. Und, sagt Schmidinger: "Es handelt sich um ein mehrheitlich männliches Phänomen."

Sozialpädagogin Ukagbanwa-Stephen findet eine weitere bei radikalisierten Kindern: "Sie kommen aus traumatisierenden Umfeldern." Konkret bedeutet das: Elternhäuser, in denen es kaum Regeln gibt, keine Grenzen, keine Strukturen, keinen respektvollen Umgang miteinander. Ukagbanwa-Stephen: "Der IS bietet das." Ihre Gegenstrategie: "In der WG bieten wir all das: Wertschätzung, Verlässlichkeit und klare Regeln." Bei Regelverstoß gibt es Gespräche und Konsequenzen – das sei für "ihre" Kinder ungewohnt und schmerzhaft.

Ein junger Mann steckt den Kopf bei der Tür herein und fragt, ob er rausgehen dürfe, "eine rauchen". Die Sozialpädagogin fragt freundlich-streng: "Hast du dein Zimmer aufgeräumt?" Er nickt eifrig, strahlt und verschwindet. "Ein ganz Lieber", sagt Ukagbanwa-Stephen, "aber ein Gefährder."

Ein lieber "Gefährder"

Der Begriff des "Gefährders" wird als Arbeitsbegriff für die rund 300 "Austro-Jihadisten", aber auch für Links- und Rechtsradikale sowie staatsfeindliche Gruppierungen wie die "Souveränen" verwendet, ist gesetzlich aber nicht definiert. Der junge Mann in Ukagbanwa-Stephens WG hat in der Berufsschule wiederholt Mädchen mit "dem IS" gedroht und wurde angezeigt. Die Sozialpädagogin interpretiert das so: "Das war ein Schrei, er wollte endlich wahrgenommen werden." Das wird er nun, nicht nur in ihrer WG. Der Polizei ist der junge Mann, gerade einmal 15, nun bekannt.

Obwohl: "Unsere Mittel, jugendliche Gefährder zu überwachen, sind äußerst bescheiden", sagt Karlheinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums. Die zulässigen Befugnisse für polizeiliche Ermittlungen sind abhängig von der Konkretisierung eines Tatverdachts. Je nach Grad der Konkretisierung finden sich abgestufte Befugnisse im Staatsschutzgesetz, im Sicherheitspolizeigesetz oder in der Strafprozessordnung. Für Minderjährige gelten besondere Bestimmungen.

Kinder unter 14, die in Verdacht geraten, sind laut Strafrecht nicht strafmündig, gegen sie können keine Ermittlungsbefugnisse der Strafprozessordnung, etwa Kommunikationsüberwachung, ergriffen werden. Grundböck: "Bei verdächtigen strafunmündigen Kindern sind nur wenige eingreifende Maßnahmen zur Abwehr einer unmittelbar von ihnen drohenden Gefahr zulässig."

Akten bleiben gespeichert

Strafanzeigen, die die Polizei an die Staatsanwaltschaften erstatten, werden im kriminalpolizeilichen Aktenindex gespeichert. Für diese Speicherung gibt es, unter bestimmten Voraussetzungen, eine gesetzliche Verpflichtung zur Löschung. Nicht so auf den Servern der Justiz: Im sogenannten VJ (Verfahrensautomation Justiz) bleiben Akten zehn Jahre lang gespeichert – egal wie alt oder wie jung die Person war, gegen die ermittelt wurde.

Ihre jugendlichen Klienten seien "fürs Leben gezeichnet", wenn sie einmal als "radikalisiert" aufgefallen seien, sagt die Sozialpädagogin. Dazu kommen oft auch noch Fluchttraumata. "Sie haben oft niemandem, dem sie sagen können, was sie belastet."

Auch Wissenschafter Thomas Schmidinger sagt: "Den meisten geht es um Zugehörigkeit. Das ist der Schlüssel." Klassische Deradikalisierungsarbeit, wie sie etwa der Verein Derad anbietet, mit Gesprächen über die verkehrte, gefährliche Ideologie des IS, verfängt nur bei den wenigsten der jungen Radikalisierten: "Ich habe überhaupt nicht gewusst, wovon der redet", wird ein inhaftierter Jugendlicher, angesprochen auf ein "Deradikalisierungsgespräch", in der Studie zitiert.

Praktische Maßnahmen

In der WG im 12. Bezirk setzt Monika Ukagbanwa-Stephen auf praktische Maßnahmen – etwa gemeinsames Kochen mit ungeahnten Nebeneffekten: "Heimweh hat mit Gerüchen und Geschmack zu tun. Wenn die Kinder ihre Lieblingsgerichte von daheim kochen, hilft ihnen das ein bisschen." Das seien auch die Momente, in denen sie innerlich "aufmachen" und man an sie herankomme.

Die Probleme werden nach der Schulpflicht noch größer. Es gibt nur wenige Einrichtungen für schulisch und sozial gescheiterte Jugendliche. Restart der Caritas ist eine solche Einrichtung, sie richtet sich an Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren, die nicht mehr schulpflichtig sind, sich aber auch sonst in keiner Ausbildung befinden.

Auf der Homepage steht, es gehe darum, "unkompliziert ein Taschengeld" zu verdienen und dabei einer "sinnstiftenden Tätigkeit" nachzugehen. Letzteres ist der wesentliche Punkt. "Sinnstiftend" ist einerseits die Tätigkeit: Aus alten Fahrradschläuchen werden etwa Laptoptaschen und Smartphonehüllen geschneidert, aus Tetra-Paks Einkaufstaschen genäht, aus Kaffeekapseln wird Modeschmuck designt.

Motivation und Struktur

Andererseits geht es um Motivation und den Willen, sich einer – wenn auch minimalen – Struktur zu unterwerfen. So kann man sich für die Workshops nicht anmelden. Man muss zu "Dienstbeginn" um 8.30 Uhr vor der Werkstatttür der Caritas im 16. Bezirk stehen und hoffen, dass man genommen wird. Denn die Plätze sind stark begrenzt: 48 Arbeitsplätze pro Woche gibt es, es wird in sechs Schichten gearbeitet, es gibt ein "therapeutisches Taschengeld" von 16 Euro für vier Stunden.

Mehr als fünfmal pro Monat kann eine Person nicht genommen werden. Die Teamleiter, Psychologin Claudia Amz und Sozialarbeiter Richard Klawatsch, sagen, sie könnten drei- bis viermal so viele Jugendliche pro Woche beschäftigen. Klawatsch: "Die jungen Leute rennen uns die Türen ein." Oft stünden Montagfrüh 30 Jugendliche vor der Tür, aber nur acht können in der Restart-Werkstatt pro Tag arbeiten. Die meisten wohnen in sozialpädagogischen Einrichtungen.

Zukunftsaussichten

Wer sich als stabil und verlässlich erweist, rückt in eine Peer-Gruppe auf, in der er andere anleitet. Der nächste Schritt wäre dann ein Platz in einer Lehrwerkstätte oder gar eine Lehrstelle. Amz: "Wir wissen, dass 380 Jugendliche, die im Vorjahr bei uns waren, diesen Schritt getan haben." Das ist kein kleiner Erfolg, freilich gibt es einen Wermutstropfen: 1200 Jugendliche mussten im Vorjahr abgewiesen werden. Aus Platzgründen.

Sozialpädagogin Ukagbanwa-Stephen sieht die Zukunftsaussichten für ihre Klienten nüchtern: "Etwa zehn Prozent finden einen Job und eine Wohnung und behalten beides auch." Aber, trotz allem: Zehn seien besser als null. (Petra Stuiber, 27.5.2017)