Eine Kunstperformance mit Affenmenschen, die eskaliert: Eine der vielen Szenen aus Ruben Östlunds "The Square", die langsam zu kippen beginnt.

Foto: Filmfestspiele Cannes

Kurze Euphorie in einem Moment der Solidarität: Nahuel Pérez Biscayart in Robin Campillos Aids-Drama "120 battements par minute", das von der Aufklärungskampagne der 90er-Jahre erzählt.

Foto: Filmfestival Cannes
Foto: Filmfestival Cannes

Rund zwanzig Minuten dauert die Fahrt zu dem Hangar außerhalb von Cannes. Dort hat der Oscar-prämierte Regisseur Alejandro González Iñárrito seine Virtual-Reality-Installation Carne y Arena aufstellen lassen. Sie will dem Besucher vermitteln, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.

Barfüßig tritt man in einen quaderförmigen Raum, der sich in die Grenzregion zwischen den USA und Mexiko verwandelt, sobald man die Brille über den Kopf geschnallt hat. Die Nacht bricht an, eine Kolonne von Migranten schleppt sich müde voran. Dann plötzlich der Rotorenlärm eines Hubschraubers. Bewaffnete Miliz springt aus einem Jeep heraus und bellt einen an, in die Knie zu gehen. Knapp ist man davor, dem Befehl zu folgen.

Das von der Foundation Prada finanzierte Spektakel ist technisch fraglos beeindruckend. Alles ist zum Greifen nah, und doch greift man durch alles hindurch. In seinem moralischen Eifer bleibt der Trip jedoch so zwiespältig wie spekulativ. Nach dem rund sieben minütigen Grenzübertrittsversuch gleitet man wie ein beschämter Peepshow-Besucher in der Festival-Limousine mit WLAN aus der Wüste zurück ins Festivaltreiben.

Es ist diese Ambivalenz, die Carne y Arena etwas durchaus Beispielhaftes verleiht. Denn auch im Wettbewerb von Cannes gab es Filme, die ihre Erkundung von Miseren mit einem attraktiven Spin (oder einem Star) versehen. Die besten davon setzten sich der Spannung aus. Sie suchten nach den Double-Binds liberaler Weltanschauungen, loteten aus, wo die Grenzen der Toleranz beginnen.

The Upcoming

In The Square entwirft der Schwede Ruben Östlund (Höhere Gewalt) eine Versuchsanordnung, in der ethisches Handeln an den Grenzen zwischen Leben und Kunst versagt. Claes Bang spielt den Chefkurator eines Museums für Gegenwartskunst, der ein Kunstprojekt vorbereitet. Es geht um die Bereitschaft für soziales, hilfsbereites Handeln. Sobald ihn jedoch etwas selbst, als Privatperson, betrifft, handelt er eher unsouverän. So kratzt der Film kontinuierlich an seiner Fassade, bis dahinter ein ängstlicher Mensch zum Vorschein kommt.

The Square gibt sich jedoch nicht mit einer Komödie über einen Heuchler zufrieden. Die wie mit dem Lineal gezogenen Bilder des Films erweitern sich zur beißenden Gesellschaftssatire, in der die Elastizität westlicher Toleranzvorstellungen geprüft wird. Dafür wurde er zurecht mit der Goldenen Palme prämiert. Östlund illustriert sein Planspiel mit so cleveren wie hochkomischen Szenen wie etwa einem Künstlergespräch, bei dem ein Zuhörer mit Tourette-Syndrom durch Zwischenrufe stört; oder mit einer Sexszene, in der am Ende die Frage, wer das Kondom entsorgt, zum vielsagenden Gefecht gerät.

The Upcoming

Die Satire bot sich interessanterweise gleich in mehreren dieser Gesellschaftsanalysen als Ausweg an, vielleicht auch ein Hinweis dar auf, dass die Widersprüche einer polarisierten Welt gar nicht mehr anders zu erfassen sind. Selbst Michael Haneke schien in Happy End nahe an der Selbstironie zu operieren. So selbstreflexiv und überspitzt war sein Blick auf die Verwerfungen des Großbürgertums noch nie.

Auf der Suche nach verlorener Empathie ist auch Alexej Zvjagintsevs Loveless. Im Zentrum: ein Paar aus St. Petersburg, das nur das gemeinsame Kind verbindet, bis auch dieses verschwindet. Zvjagintsev zeigt selbstsüchtige Menschen, ihr Horizont endet am iPhone-Display, ihr Glück im Bett mit einem austauschbaren Partner.Der Russe wurde dafür mit dem Preis der Jury prämiert.

Blutige Metaphern

Endgültig ins Wahnhafte kippt der Befund in Yorgos Lanthimos’ brillantem, gleichnishaftem Thriller The Killing of a Sacred Deer. Hier wird die Kluft zwischen den Klassen mit einem mörderischen, archaischen Ritual überwunden. Lanthimos fragt danach, wie weit man zu gehen bereit ist, um den eigenen Status zu wahren. Unvergesslich etwa jene Szene, in der sich der Bursche (Barry Keoghan), der der Familie so zusetzt, ein Stück aus dem Arm beißt – und dann sagt: "Das ist metaphorisch."

Im Vergleich dazu traditionell erschien der Ansatz des Franzosen Robin Campillo, der in 120 battements par minute mit den Mitteln des sozialrealistischen Kinos Aids-Aktivisten in den 1990er-Jahren begleitet. Das größte Augenmerk legt der Film dabei auf die Debatten unter den Teilnehmern selbst, in denen Initiativen hinterfragt werden – in einer Genauigkeit, die wohl auch als Anleitung für die Gegenwart gemeint ist. Das bleibt etwas zu instruktiv: Selbst der obligatorische Aids-Tote wirkt zu gesetzt, um richtig zu bewegen.

The Upcoming

Am Ende rollte die Britin Lynne Ramsay mit dem letzten Wettbewerbsfilm You Were Never Really Here das Feld von hinten auf. You Were Never Really Here ist ein Film über einen Auftragskiller namens Joe, der die entführte Teenagertochter eines US-Senators befreien soll.

Allerdings umgeht Ramsay mit ihrer elliptischen Erzählweise so gut wie alle gängigen Konventionen des Genres. Anstatt einer spannungsorientierten Dramaturgie zu gehorchen, schält sie sich ins Unbewusste des traumatisierten Helden, eines Kriegsveteranen, den Joaquin Phoenix mit der ihm eigenen traumwandlerischen Präsenz versieht und dafür auch ausgezeichnet wurde.

Sofia Coppolas The Beguiled ist das feminisierte Remake eines Don-Siegel-Films von 1971 mit Clint Eastwood. Nun spiel Colin Farrell den Soldaten der Unionsarmee, der während des Sezessionskriegs in einem von Nicole Kidman geleiteten Mädchenpensionat Unterschlupf findet. Für Coppola eine Gelegenheit, um in feinen Nuancen von weiblicher Verführung und List zu erzählen – sie wurde als beste Regisseurin prämiert.

Was im Wettbewerb fehlte, war abgesehen vom Koreaner Hong Sang-soo ein persönlich gehaltenes Autorenkino, das sich ohne Stars und große Thesen auf die Aussagekraft der eigenen Perspektive verlässt. Da sollte Cannes wieder mehr Mut zur Durchmischung beweisen. Valeska Grisebachs Western oder Sean Bakers The Florida Project zeigten in Nebenschienen, wie ein vergleichsweise armes Kino dazu imstande ist, von der Schönheit des Fremdseins zu erzählen. Der eine Film unter Bauarbeitern in Bulgarien, der andere mit betörendem Schwung unter Kindern, die in einem Motel in Florida ein prekäres Paradies gefunden haben.
(Dominik Kamalzadeh, 28. 5. 2017)

The Upcoming