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Bei Osteoporose-Patienten baut sich mehr Knochenmasse ab als auf. Gezielte Vibrationen können dabei helfen, die Balance zwischen Auf- und Abbau wiederherzustellen.

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Ralph Müller ist Professor für Biomechanik an der ETH Zürich.

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STANDARD: Sie halten heute, Mittwoch, in Wien einen Vortrag zum Thema "Wie die Knochen hören lernten" – wie kann man sich das Hören der Knochen vorstellen?

Müller: In meiner Arbeit geht es darum, dass Knochen sehr empfindlich auf mechanische Vibrationen reagieren – ähnlich wie das Gehör. Die Frage ist: Wie kann der Knochen hören? Wir wollen lernen, wie sich Schallwellen im Knochen ausbreiten. Letztlich sind es Zellen, die die Vibrationen hören und spüren. Wir interessieren uns für die molekularen Grundlagen dieses Prozesses: Wie läuft die Kommunikation zwischen Zellen ab? Natürlich konnten Knochen immer hören, doch nur wenn wir den Prozess verstehen, können wir ihn therapeutisch nutzen.

STANDARD: Wie würde so eine Therapie konkret aussehen?

Müller: Es gibt jetzt schon Geräte für die Vibrationstherapie. Man kann sich das wie eine vibrierende Platte vorstellen, auf die man sich draufstellen kann. Im Moment werden solche Platten vor allem im Wellness- und Gesundheitsbereich eingesetzt. Dabei geht es um den muskulären Bereich. Denn die Muskeln reagieren ebenfalls auf diese Vibrationstherapie – nicht nur die Knochen, auch die Muskeln haben Ohren. Wenn man solche Platten zusätzlich zu einem Training nutzt, kommt es zu einer stärkeren Durchblutung und dadurch zu größerem Muskelaufbau. Als medizinische, therapeutische Geräte sind solche Vibrationsplatten aber noch nicht zugelassen.

STANDARD: Woran liegt das?

Müller: Die medizinische Zulassung ist sehr schwierig. Wie im pharmazeutischen Bereich bräuchte es klinische Studien. Bei der Einführung eines neuen Osteoporosepräparats muss man mitunter ein bis zwei Milliarden Euro ausgeben, um in klinischen Studien mit zehntausenden Patienten zu zeigen, dass das Präparat wirkt. Da bei der Vibrationstherapie keine Pharmagroßkonzerne dahinterstehen, wird das nicht so schnell passieren. Deswegen braucht es umso mehr Grundlagenforschung, wie man das Gehör der Knochen verbessern kann – etwa durch die Beigabe pharmazeutischer Produkte.

STANDARD: Wie gehen Sie dabei vor?

Müller: Man muss zunächst ein Modell definieren, an dem man untersuchen kann, wie sich der Knochen an Schallwellen anpasst. Zum Beispiel kommt es bei einer Osteoporose zu Knochenschwund – wir sehen uns an, ob sich Schallwellen positiv auf das Wachstum des Knochens auswirken und sich der Knochenbestand so anpasst, dass man wieder einen guten, gesunden Knochen hat. Wir haben ein Modell entwickelt, in dem wir mit sehr guter Auflösung messen können, wie sich die Mikrostruktur im Knochen verändert. Wir können so in den Knochen hineinschauen und mit zehn Mikrometer Auflösung – das ist eine Zehntelbreite eines Haares – sehen, was die Zellen am Knochen an- oder abbauen. Der Knochen ist nie ruhig im Körper, er baut sich ständig um. Bei einer Osteoporose baut der Knochen mehr ab als auf. Wir müssen dann versuchen, die Balance zwischen Auf- und Abbau in Richtung Aufbau zu bewegen.

STANDARD: Was sind derzeit die großen ungelösten Fragen dabei?

Müller: Wir schaffen es im Mausmodell mit einer fünfminütigen Therapie dreimal in der Woche, zwanzig Prozent mehr Knochenbasse aufzubauen – und das innerhalb von vier Wochen. Das ist wirklich toll. Man könnte sich etwa dreimal in der Woche fünf Minuten lang auf eine kleine Platte in der Küche beim Kochen stellen oder beim Zähneputzen. Bei der Maus funktioniert das, beim Mensch funktioniert es aber noch nicht. Die große Frage ist daher, wie kann man diese Resultate auch beim Menschen erzielen. Bei dieser Therapie ist die Größe der Kraft, die angewendet wird, entscheidend. Also, wie groß die Schallwelle ist und auch wie schnell.

STANDARD: Welche Einsichten sind dafür notwendig?

Müller: Das hat zu tun mit einer weiteren offenen Frage, nämlich die Heterogenität der Zellen zu verstehen. Es gibt viele tausende verschiedene Zelltypen im menschlichen Körper, die alle unterschiedliche Funktionen haben. Die Zellen waren natürlich einmal alle identisch, denn sie stammen ja von derselben Person, aber sie entwickeln sich im Laufe der Zeit ganz verschieden und haben einen unterschiedlichen genetischen Code – wie es dazu kommt, das wollen wir verstehen. Man könnte so Therapien entwickeln, die die verschiedenen Zellen besser berücksichtigen können.

STANDARD: Könnten solche Vibrationstherapien auch unerwünschte Nebenwirkungen haben?

Müller: Die Nebenwirkungen sind dosisabhängig. Die Vibration ist eine physische Belastung für den Knochen. Wir wissen, wenn man Menschen über lange Zeit physischer Belastung aussetzt, dann kann es zu sogenannten Belastungsfrakturen kommen. Man kennt dieses Problem etwa bei jungen Rekruten, die – ohne vorher trainiert zu haben – plötzlich zehn, zwanzig oder fünfzig Kilometer laufen müssen. Dabei kann es zu Ermüdungsbrüchen kommen. Wenn man die Vibrationstherapien zu häufig anwenden würde, könnte das dem Gewebe schaden. Der nichtzelluläre Teil des Knochens kann dann kaputtgehen oder Risse erhalten. Das muss individuell an die Person angepasst werden. Generell ist die Vibrationstherapie ein natürlicher Prozess, wir sind solchen Vibrationsbelastungen jeden Tag ausgesetzt. In der Therapie passiert nichts anderes, als diese zu konzentrieren. Es gibt daher keine unerwünschten Nebenwirkungen, die man nicht schon kennt.

STANDARD: Sie kommen ursprünglich aus den Ingenieurswissenschaften – wie kam es, dass Sie sich diesem medizinischen Forschungsthema zugewendet haben?

Müller: Ich habe Elektrotechnik studiert und mich gegen Ende meines Studiums auf Nachrichtentechnik fokussiert. Dabei geht es auch sehr stark um Bildverarbeitung. Ich hätte dann die Möglichkeit gehabt, Algorithmen zu entwickeln, die Pakete in der Post sortieren – das war damals noch nicht möglich. Ich habe mich aber entschlossen, in der medizinischen Bildgebung zu arbeiten. Es hat mich mehr motiviert, bildgebende Verfahren dafür einzusetzen, herauszufinden, welche Personen ein Frakturrisiko haben und sich beim nächsten Umfallen womöglich die Hüfte brechen würden, als an rein technischen Anwendungen zu arbeiten. (INTERVIEW: Tanja Traxler, 3.6.2017)