Ludwig Wittgenstein, fotografiert von Ben Richards, mit dem der Philosoph 1950 seine letzte von vielen Reisen nach Norwegen unternahm.

Ben Richards

Österreich heißt auf Norwegisch Østerrike. Für die Bewohner eines kleinen, eher abgelegenen Dorfs in Norwegen ist damit nicht nur ein kleines Land in Mitteleuropa gemeint, sondern ein ganz besonderer Ort in ihrer unmittelbaren Nähe. Um dorthin zu gelangen, ist allerdings eine längere Reise vonnöten, die man am besten in der Stadt Bergen an der Südwestküste Norwegens beginnt.

Etwa fünfzig Kilometer nördlich der Küstenstadt beginnt der Sognefjord, der mit über 200 Kilometern längste und mit weit über 1000 Metern Tiefe zugleich tiefste Meeresarm Europas. Seitlich und am Ende des im Südwesten Norwegens gelegenen Fjord hingegen geht es umso steiler nach oben: In der hochalpinen Region rund um den Meeresarm gibt es etliche gletscherbedeckte Berge jenseits der 1500 Meter.

Der Sognefjord. Am Ende des Lustrafjords ganz im Nordosten liegt Skjolden, das Ziel der Exkursion.
Foto: http://www.maps-for-free.com/

Der vom offenen Meer am weitesten entfernte Ort des Fjords heißt Skjolden (sprich: Scholden), liegt am Ende seines längsten Nebenarms namens Lustrafjord und ist heute per Auto recht bequem erreichbar. Das 300-Seelen-Dorf hat aber auch einen Hafen, an dem seit einigen Jahren auch kleinere Kreuzfahrtschiffe anlegen können, einen Supermarkt, ein Gemeindehaus mit Kletterwand und Schwimmbad sowie ein kleines Hotel. Denn ein bisschen Tourismus gibt es auch, der sich auf die kurze Saison von Ende Juni bis Anfang September konzentriert.

Blick von Skjolden zurück in den Lustrafjord. Von hier ist es am Seeweg mehr als 200 Kilometer weit bis zum offenen Meer.
Foto: Klaus Taschwer

Hinter diesem Ort, wo sich Lachs und Fuchs gute Nacht sagen, befindet sich ein malerischer kleiner See namens Eidsvatnet, der an drei Seiten von steilem Gelände eingerahmt wird. Direkt gegenüber von Skjolden, rund 30 Meter oberhalb des Sees, in nicht ganz leicht zugänglichem Gelände liegt es dann: Østerrike. Dass es den Bewohnern von Skjolden ernst damit ist, beweist eine fünf Meter hohe weiße Fahnenstange, auf der ein rot-weiß-roter Wimpel im Wind baumelt.

Wimpel und Fahnenmast von Østerrike.
Foto: Klaus Taschwer

Die Geschichte, wie dieser besondere Flecken Erde zu seinem Namen kam, beginnt im Jahr 1913. Im Spätsommer dieses Jahres reiste der Philosophiestudent Ludwig Wittgenstein gemeinsam mit seinem damaligen Freund David Pinsent von Cambridge nach Bergen, um Urlaub zu machen und an einem Manuskript zu arbeiten. Wittgenstein litt unter schweren Depressionen und war sich sicher, nur mehr wenige Monate zu leben.

"Ich sagte, er sei verrückt"

Dennoch: Nach Cambridge zurückgekehrt, wo er seit Anfang 1912 studierte, erklärte er seinem Mentor Bertrand Russell, sofort wieder nach Norwegen reisen zu müssen. Wie sich Russell erinnerte, hatte Wittgenstein nichts Geringeres vor, als "dort in völliger Einsamkeit zu leben, bis er alle Probleme der Logik gelöst habe".

Auf Russells Einwände, dass es in Norwegen im Winter dunkel und einsam sei, entgegnete Wittgenstein, er hasse Tageslicht und würde bloß seinen Geist prostituieren, wenn er mit intelligenten Leuten spräche. "Ich sagte, er sei verrückt", heißt es in Russells Notizen, "und er sagte, Gott bewahre mich vor geistiger Gesundheit." Nachsatz Russell: "Das wird Gott sicher tun."

Exzentrisches Genie und schwerreicher Erbe

Wittgenstein war damals 24 Jahre alt und hatte sich in Cambridge trotz harter Konkurrenz schnell den Ruf eines exzentrischen Genies erarbeitet. Seine Herkunft spielte dabei wohl auch eine gewisse Rolle: Der Sohn des schwerreichen Wiener Stahlindustriellen Karl Wittgenstein verfügte seit 1910 über ein Jahreseinkommen, das nach heutigem Wert mehr als eine Million Euro betrug. Als der Paterfamilias Anfang 1913 starb, waren Ludwig und seine noch verbliebenen Geschwister (zwei Brüder hatten bereits Selbstmord begangen) mit einem Schlag noch sehr viel reicher.

Dass Wittgenstein Ende Oktober 1913 ausgerechnet am Ende des längsten Fjords Europas landete, hatte indirekt wohl auch mit Geld zu tun: Der Student machte mit dem österreichisch-ungarischen Honorarkonsul in Bergen Bekanntschaft, der wiederum mit Hallvard Drægni in Kontakt stand, einem Unternehmer aus Skjolden, der damals von dort aus Beeren und Eisblöcke exportierte. Dort landete Wittgenstein Ende Oktober 1913 nach einer einwöchigen Schiffsreise.

Gar nicht von der Außenwelt abgeschlossen

"Skjolden war damals alles andere als das Ende der Welt", sagt der Dorfhistoriker Harald Vatne mit Verweis auf die regen Handelsbeziehungen nicht zuletzt dank Drægnis kleiner Fabrik. Wittgenstein habe sich nach der Ankunft bei dessen Schwester eingemietet, die ein Haus mitten in der kleinen Ortschaft bewohnte, wie der pensionierte Lehrer erzählt, der auch ein Buch über Wittgenstein in Skjolden geschrieben hat.

Im linken Teil dieses Hauses verbrachte Ludwig Wittgenstein etliche Monate im Winter des Jahres 1913/14.
Foto: Klaus Taschwer

Der vielleicht größte österreichische Philosoph des 20. Jahrhunderts, nach dem auch der wichtigste Wissenschaftspreis des Landes benannt ist, wurde von den Dorfbewohnern eher als verrückt wahrgenommen, so Vatne, und im Dorf hielten sich viele Anekdoten über den eigenwilligen Gast. So habe sich Wittgenstein einmal lautstark mit einer Kuh unterhalten und ihr befohlen, Gras zu fressen, anstatt ihn anzustarren. Und zu Drægni meinte der Millionenerbe: "Das Schlimmste, was einem Mann passieren kann, ist, wie ein Geldsack durch das Leben zu gehen."

Suche nach Einfachheit

Womöglich war dieses gewaltige Vermögen, dessen sich Wittgenstein in den nächsten Jahren konsequent entledigte, einer der Gründe, warum er die Einfachheit dieses norwegischen Kaffs suchte, wo er aber auch einige Freundschaften schloss. Vor allem aber kam er – anders als in Wien – mit seinem Denken gut voran: Laut dem Wittgenstein-Biografen Ray Monk, der gerade an einem Drehbuch für ein großes Hollywood-Biopic über den Philosophen arbeitet, zählten die Monate in Skjolden zu den produktivsten seines Lebens.

Wittgenstein, der damals an Vorstudien zu seinem berühmten "Tractatus" schrieb, suchte noch mehr Einsamkeit und machte im Frühjahr 1914 Pläne, sich am Rande des Orts ein Holzhaus zu bauen. Er hatte dafür drei Plätze in die engere Auswahl gezogen, so Vatne, entschied sich dann aber für den augenscheinlich besten: einen Felsvorsprung über dem See mit großartigem Blick auf den Eidsvatnet, Skjolden und die Bergwelt – Østerrike eben.

Wittgensteins Genius Loci mit grandioser Aussicht: Auf diesem Steinfundament stand jenes Holzhaus, das Ludwig Wittgenstein in Norwegen bewohnte. Unmittelbar hinter den Häusern von Skjolden und vor den Bergen endet der längste und tiefste Fjord Europas.
Foto: Klaus Taschwer

Das Besondere daran sei, dass man zumindest vom Balkon des Hauses aus nicht nur die Oberfläche des Sees, sondern auch die des Fjords sehen konnte, wie der Architekt Kjetil Trædal Thorsen im Vorjahr bei einer Veranstaltung der Wittgenstein-Initiative in Wien hervorstrich. Der Mitbegründer des weltweit tätigen und global erfolgreichen Architekturbüros Snøhetta geht davon aus, dass diese doppelten Horizontalen und dazu das Vertikale der Berge für Wittgensteins Denken wichtig gewesen seien.

Vortragsreihe über Wittgenstein in Norwegen mit (von links nach rechts:) Kjetil Trædal Thorsen (Snøhetta), Alois Pichler (Uni Bergen), Marjorie Perloff (Stanford University) und Knut Olav Åmås (Fritt Ord Foundation).
Radmila Schweitzer

Thorsen, der mit seinem Büro unter anderem die neue Oper in Oslo oder die Bibliothek von Alexandria entworfen und den Times Square in New York in eine Fußgängerzone verwandelt hat, verwies aber auch darauf, dass dieses Haus in Skjolden das einzige sei, das Wittgenstein je für sich selbst entworfen habe. Am Haus Wittgenstein in der Wiener Kundmanngasse sei der Philosoph nur Mitplaner gewesen, außerdem wurde es von seiner Schwester bewohnt.

Fertiggestellt und bezugsfertig wurde das eigene Haus des Philosophen, über das es seit kurzem auch eine Dissertation eines spanischen Forschers gibt, freilich erst nach dessen Abreise im Sommer 1914. Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus, und Wittgenstein glaubte nicht mehr daran, je sein Haus bewohnen zu können. Das passierte dann aber doch, Jahre später und gleich mehrmals.

"Die stille, wunderbare Landschaft"

Wittgenstein besuchte Skjolden 1931, lebte dann ab August 1936 mehr als ein Jahr lang dort und schrieb in diesen Monaten wichtige Teile seiner "Philosophischen Untersuchungen", die als eines seiner Hauptwerke gelten. In einem Brief aus diesem Jahr heißt es: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwo sonst so arbeiten könnte, wie ich es hier tue. Es ist die stille und, womöglich, die wunderbare Landschaft; ich meine: ihre ruhige Ernsthaftigkeit."

Immer, wenn Wittgenstein in seinem Haus lebte, so Harald Vatne, hieß es damals bei Dorfbewohnern: "Der Philosoph ist in Österreich." Allzu nahe sollte man dem Haus aber besser nicht kommen. Als sich ein Einheimischer einmal in der Nähe blicken ließ, erzählt Vatne, soll Wittgenstein den Passanten angeherrscht haben, dass er nun wieder zwei Wochen brauchen würde, um dort weiterdenken zu können, wo er gerade unterbrochen wurde.

Dekonstruktion und Rekonstruktion

Im Jahr 1950 begab sich Wittgenstein mit seinem damaligen Freund Ben Richards noch einmal nach Skjolden. Zurück in Cambridge plante er, sich für längere Zeit in Norwegen niederzulassen, doch sein früher Tod 1951 durchkreuzte die Pläne. Sieben Jahre später wurde Wittgensteins sieben mal acht Meter großes Holzhaus, das er einem Bewohner des Orts geschenkt hatte, abgebaut und nicht ganz authentisch in Skjolden wieder aufgestellt: ohne Balkon, das Dach um 90 Grad gedreht, dafür aber mit Eternitverkleidung.

Skjoldens Dorfhistoriker Harald Vatne neben jenem Haus, das zu 90 Prozent aus Wittgensteins Originalhaus besteht. Demnächst soll es am ursprünglichen Standort originalgetreu wiedererrichtet werden.
Foto: Klaus Taschwer

Doch das soll sich demnächst ändern, sagt Harald Vatne hoffnungsfroh, der auch darauf verweist, dass im transferierten Haus noch 90 Prozent des originalen Baumaterials vorhanden seien. Und er selbst habe noch die Originalfenster in seinem Schuppen. Gemeinsam mit Lokalpolitikern und Philosophen der Universität Bergen und unterstützt von Schriftstellern wie Jon Fosse und Jostein Gaarder betreibt er die Wiedererrichtung von Wittgensteins Haus an seinem Originalstandplatz, wo immerhin noch das Steinfundament existiert.

Der Pfad, der schon jetzt zum Standort von Wittgensteins Haus (also nach Østerrike) führt, wird auch in Zukunft etwas steinig bleiben.
Foto: klaus taschwer

Heuer soll es damit nun nach etlichen Jahren Anlauf aber wirklich ernst werden: Das Haus wurde seinem Zwischenbesitzer abgekauft und wird, so die Pläne, im Sommer fachkundig zerlegt werden. Die norwegische Wittgenstein-Stiftung hat auch das Grundstück oberhalb des Sees erworben und mit Wegbauarbeiten begonnen. Und wenn es mit den Spenden klappt, dann könnte der Wiederaufbau schon 2018 erfolgen – und damit das Haus des großen österreichischen Denkers in seine Heimat Østerrike zurückkehren. (Klaus Taschwer, 2. 6. 2017)