Der Marder schickt sich an, das Täubchen seines Quartiergebers zu verschlingen: Gino (Jude Law, re.) mit dem Ehepaar Hanna (Halina Reijn) und Joseph (Gijs Scholten van Aschat) zu Gast in Wien.

Foto: Jan Versweyveld

Halina Reijn und Jude Law in "Obsession".

Foto: Jan Versweyveld

Wien – Gino (Jude Law), der geheimnisvolle Vagabund, bläst eine traumschöne Mundharmonika. Die Landschaft, in der Luchino Viscontis Filmdebüt "Ossessione" spielt, hat sich nach 75 Jahren stark verändert. Die enge, bedrückende Welt des "Neorealismo" ist in der Halle E des Museumsquartiers einer großzügigen Weite gewichen.

Auch für Hanna (Halina Reijn), die vernachlässigte Frau eines Tankstellenbesitzers, hat sich seit den 1940er-Jahren vieles zum Besseren gewendet. Sie besitzt jetzt eine Küchenzeile mit Dunstabzug. Den Hunger des Wanderers stillt sie mit unsichtbarem Tellerinhalt. Vorher haben Gast und Wirtin noch den Blick der Liebesverzauberung miteinander gewechselt.

In Viscontis Film herrschte das Klima der dringlichen Behauptung. Menschen mit Heiligengesichtern verfielen einander, ohne recht zu wissen, wie ihnen geschah. In "Obsession", Ivo van Hoves Produktion der Toneelgroep Amsterdam, ist von der zersetzenden Macht blinder Leidenschaft, vom Treibhausklima der Armut nicht mehr viel zu spüren. Wir begegnen Vertretern der Mittelschicht. Hannas ein wenig vierschrötiger Gemahl (Gijs Scholten van Aschat) geht lieber mit dem Dorfgeistlichen Aale angeln, als sich an der glatten Haut seiner Frau zu erfreuen.

Ballett zärtlicher Übergriffe

Gino aber, der Landstreicher mit dem Gesicht eines Hollywoodstars, hebt Hanna erotisch zu sich empor. Er verstrickt sich mit seiner Gastgeberin in ein Ballett zärtlicher Übergriffe. In dem Stück als Starvehikel (in englischer Sprache mit Übertiteln) herrscht die Atmosphäre eines Kühllagers mit angeschlossenem Opernstudio. Zur Illustration von Stimmungsumschwüngen greift van Hove am liebsten zur stilisierenden Geste. Ein Verdi-Chor summt, der unvermeidliche Beamer zaubert die Gesichter der Liebenden auf viele leere Flächen.

Der eigentliche Held in dieser seltsam anämischen Veranstaltung ist ein frei schwebender Motorblock. Er stottert brav. Aus einer seiner Kannen fließt pechschwarzes Motoröl, das die Figuren bei jeder Havarie mit tödlichem Ausgang besudelt: Blutersatz aus der Gefühlskonserve.

Durch seine Kompetenz als Mechaniker nimmt Gino die Quartiergeber prompt für sich ein. Der Marder schleicht ins Ehenest. Nach Beseitigung des sehr schön eine Arie schmetternden Hausherrn finden ausgiebige Waschungen am Brunnen statt. Ein blonder Gaukler (Robert de Hoog) taucht auf und versucht Gino, der sich in seiner Rolle als Mörder und Tankstellenerbe ohnehin nicht wohl in seiner Haut fühlt, seiner Gefährtin abspenstig zu machen.

In Viscontis titelgebendem Film werden alle Gefühlsverstrickungen, auch die homoerotischen, zwischen Ancona und Ferrara sozial verortet und mit großer Exaktheit sorgsam bestimmt. Man meint, die Hitze flirren zu spüren. Hier, zwischen Laufband und Pumpenschwengel, flimmert ein ästhetisches Niemandsland (Bühne: Jan Versweyveld). Wird zwischen Männern gerauft, dürfen auch The Stooges ihr nicht umzubringendes "Now I wanna be your dog" jaulen.

Glas zwischen Fingern

Seelische Verworrenheit drückt Gino vornehmlich dadurch aus, dass er ein Schnapsglas zwischen den Fingern dreht. Es ist nicht weit her mit der Aura des theatererprobten Hollywoodstars. Tatsächlich entlässt van Hove seine Darsteller in eine Kunstgewerbeschule; in ihr kocht man die übergroßen Gefühle auf gar nicht kleiner Routineflamme hoch. Kein Reinfall, aber doch erschreckend zähe gut anderthalb Stunden.

An deren Ende klappt ein Prospekt hoch und gibt den Blick frei auf das wild bewegte Meer der Seele. Der Festwochen-Applaus, freundlich gestimmt, verebbte erstaunlich rasch. (Ronald Pohl, 1.6.2017)