Ein Mitsommerfest am Turaida-Hügel in Lettland. Zum längsten Tag des Jahres tragen die Herren Eichenlaub, die Damen Blumenkränze. In diesem Outfit wird bis in die Morgenstunden getanzt.

Foto: Dietmar Scherf

Bild nicht mehr verfügbar.

Oben auf dem Hügel wird das Holz entzündet, bald brennt es hinauf in den Nachthimmel. Die Menschen fassen sich an den Händen, schreiten in Kreisen, Spiralen und immer neuen Formationen um die brennenden Haufen, wiegen sich in dem archaischen Rhythmus.

Foto: Getty Images/mustafa6noz

Bild nicht mehr verfügbar.

In Riga kann man sich am 22. Juni bei einem großen Blumenmarkt auf dem Domplatz mit allem möglichen Ligo-Grün und zig verschiedenen Kranzmodellen eindecken.

Foto: Getty Images/mustafa6noz

"Ligo, Ligo, Liiigo" – schon am Morgen vor der Nacht der Nächte schallt das bekannte Mittsommerlied durch die Wälder um den Janis-Hügel bei Turaida. In der Frühe klingt es noch leicht und glücklich. Vier junge Frauen singen es mit heller Stimme, während sie unter einer Eiche sitzen und Blüten, Blätter und Gräser zu Kränzen binden. Später werden sie die bunten Kunstwerke auf dem Kopf in die Dunkelheit hineintragen, stolz, als seien es Kronen. Anita Berzina zeigt ihren Kranz aus roten Rosen und ein kolossales Büschel Eichenlaub. "Mein Mann soll das tragen", sagt sie, "die Eiche bringt Kraft und Stärke".

Indra Cekstere bringt einen Korb mit Nachschub. Sie ist über Felder und Wiesen gewandert und hat Johanniskraut, Klatschmohn, Kornblumen und Margeriten gesammelt. "Die Pflanzen sind zur Sommersonnenwende stark energetisch aufgeladen, haben magische und heilende Kräfte und halten das Böse fern", erklärt sie. Auch die Häuser werden mit Zweigen von Birke, Eiche und Vogelbeerbaum geschmückt. Manche Letten hängen zudem Kletten und Brennnesseln an die Tür, damit kein Unheil über die Schwelle kommt.

Sonnenkult und Morgentau

In kaum einem anderen Land Europas sind solch mystische Bräuche zur Feier des längsten Tages im Jahr erhalten geblieben. Sie haben ihren Ursprung im Sonnenkult und in Ritualen der Ahnen zu Ehren der Fruchtbarkeit. An manchen Orten in Lettland springen die Feiernden über Feuer und waschen sich in der Morgendämmerung nackt mit Tau. Paare suchen im Wald nach einem legendären Farn.

"Er blüht nur in dieser einen Nacht", erzählt Anita Berzina von dem Kult um eine Pflanze, die in Wirklichkeit gar keine Blüten trägt. "Die Liebenden kennen ihr Geheimnis. Dieser Farn bringt Glück und viele Babys". Tatsächlich steigt die Zahl der Geburten jährlich ziemlich exakt neun Monate nach den Mittsommerfeiern deutlich an und Janis (Johannes) gehört seit langem in Lettland zu den beliebtesten Vornamen.

Ein Ligo-Fest für Jani

Männer schleppen Holz auf den Janis-Hügel bei Turaida und stapeln es an mehreren Stellen, wo nachts Feuer brennen sollen. Turaida ist eine Siedlung mit mittelalterlicher Burg nahe Sigulda, westlich von Riga. Hier bemühen sich die Organisatoren, beim Fest noch die Sommersonnenwende in den Mittelpunkt zu stellen und die kürzeste Nacht am 21. Juni wie in uralten Zeiten zu zelebrieren.

Die katholische Kirche versuchte seit der Christianisierung Lettlands vor über 800 Jahren, das heidnische Fest umzudeuten. Statt am 21. wird nun überwiegend in der Nacht zum 24. Juni gefeiert, dem Gedenktag Johannes des Täufers. Nicht so gut durchgesetzt hat sich die Namensänderung für das Ereignis von Ligo zu Jani (Johannisfest). Die Bezeichnung Ligo ist weiterhin verbreitet.

Blumen im Haar

In Riga kann man sich am 22. Juni bei einem großen Blumenmarkt auf dem Domplatz mit allem möglichen Ligo-Grün und zig verschiedenen Kranzmodellen eindecken. Am 23. Juni fahren dann viele Städter raus aufs Land, um nachts in der Natur mit der Familie und Freunden zu feiern. Alternativ oder ergänzend besuchen sie bereits am 21. Juni die Veranstaltung rund um den Janis-Hügel bei Turaida.

Die Wiese unterhalb des Hügels füllt sich gegen Abend mit hunderten Menschen. Viele Frauen tragen Tracht, weiße, mit Blumenornamenten bestickte Blusen und lange, fein orange und rot gestreifte Röcke. Wer noch keinen Blütenkranz auf den Haaren trägt, flicht sich schnell einen am Blumenstand. Imbissbuden bieten Palatschinken mit Marmelade, Ligo-Bier und Fladen mit Kümmelkäse zur Stärkung. Dann geben Hornbläser in historischer Kleidung das Startsignal.

In Trance singen

Eine Prozession formiert sich, angeführt von "Mutter Janis" und "Vater Janis", gefolgt von Fackelträgern und einer Frau, die ein Tablett mit Blättern, Blüten und Lebensmitteln in den Händen hält, die an Opfergaben erinnern. Erst zieht die Menge langsam und schweigend den Janis-Hügel hinauf, als plötzlich alle Menschen punktgenau, gewaltig und laut, wie auf die forsche Geste eines Dirigenten, das Ligo-Lied anstimmen: "Ligo", darauf eine abrupte Pause. Sogleich das zweite "Ligo", wieder bricht der Gesang kurz ab, um schließlich das lange dritte "Liiigo" berührend auszumalen.

J0ns71

Jetzt klingt der Gesang nicht mehr so leicht wie am Morgen, sondern feierlich, stolz und melancholisch. Die Menschen werden es in dieser Nacht immer wieder wiederholen, "Ligo, Ligo, Liiigo", manche werden sich damit in Trance singen. Oben auf dem Hügel wird das Holz entzündet, bald brennt es hinauf in den Nachthimmel. Die Menschen fassen sich an den Händen, schreiten in Kreisen, Spiralen und immer neuen Formationen um die brennenden Haufen, wiegen sich in dem archaischen Rhythmus.

Wunder entdecken

Zunehmend werden die Tänze wilder, bis die Ersten über kleine Feuer springen, was reinigend und von negativen Kräften befreiend wirken soll. Anita Berzina hält kurz die Augen geschlossen und summt noch einmal die Melodie des bekannten Mittsommerliedes. "Die Lieder sind in unserem Herzen", sagt sie und lächelt.

Ein junges Pärchen huscht kichernd und Händchen haltend hurtig in den Wald hinein. Jeder hier weiß, dass die Beiden den blühenden Farn suchen – oder ein ähnliches Wunder entdecken. (Dietmar Scherf, 8.6.2017)