Manfred Matzka: "Die Staatskanzlei. 300 Jahre Macht und Intrige am Ballhausplatz". € 39,90, 288 Seiten. Brandstätter-Verlag, Wien 2017

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Schon das Eingangszitat aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" deutet die Raffinesse, Fantasie und historische Tiefe an, mit der Manfred Matzka die Geschichte der politischen Schaltzentrale des Habsburger-Imperiums "im schönen alten Palais am Ballhausplatz" in seinem spannenden Buch entwickelt. Er "enthüllt" nicht nur jenes "Geheimnis", das Musil hinter dieser "mysteriösen Küche" vermutet, wo 1814/1815 und 1914 "hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde", sondern holt die Vorgeschichte dieses Gebäudekomplexes seit der Römerzeit über die Türkenbelagerungen und die Erste Republik, die Kanzlerdiktaturen, den nationalsozialistischen Terror bis herauf zu Anfängen und Gegenwart der Zweiten Republik vor den zeithistorischen Vorhang.

Für mich ist dieses Buch eine der spannendsten und am besten recherchierten Geschichten eines zentralen politischen Erinnerungsortes im Sinne Pierre Noras, in der akribisch recherchierte und pointiert geschriebene politische Akteursanalyse und Verwaltungsgeschichte gekonnt in profunde Architektur- und Kunstgeschichte, aber auch in Sozialgeschichte verwoben werden. Ganz im Stile amerikanischer Historiker gelingt es dem Spitzenjuristen und ehemaligen höchsten Beamten der Republik Österreich, ein liebevolles und zugleich kritisches Porträt seiner früheren Arbeitsstelle zu entwickeln, das plötzlich scheinbar wieder die männlichen zentralen politischen Entscheidungsträger – von Kaunitz über Metternich zu Renner, Seipel, Dollfuß, Raab und Kreisky und vielen anderen – in Erinnerung ruft. Immer wieder regt Matzka überdies eine intensivere Beschäftigung mit Frauen in diesem männlich dominierten politischen Konzert an.

Der Autor präsentiert viele Details anhand von Reproduktionen von Originalquellen wie die Handskizze des Raumplans des Kanzleramts vom chaotischen Putschversuch der Nationalsozialisten 1934, bei dem der christlichsoziale Kanzler Engelbert Dollfuß angeschossen wurde und verblutet ist. Was die künftigen Leserinnen und Leser sicherlich faszinieren wird, ist die auf umfassenden Quellen- und Literaturrecherchen beruhende subtil sprachlich ziselierte Darstellung, wo zwischen den Zeilen immer wieder der Fremdenführer Matzka hervorblinkt. Er hat selbst oft durch dieses Haus geführt und die Besucherinteressen und -fragen genau studiert und dieses geheimnisvolle Palais auch mittels Ausstellungen und Veranstaltungen der Öffentlichkeit außerhalb des Tages der offenen Tür geöffnet. Im Text wird deutlich, mit welcher Begeisterung der Beamte Matzka als Sektionschef in diesem Haus agiert hat – daher: Das Buch ist auch eine Motivationsbroschüre für apathische und manchmal frustrierte Beamte.

Immer wieder spürt man, dass der Autor engagiert seit dem heute meist vergessenen Kurzzeitbundeskanzler Viktor Klima in dem Vorzimmer der Macht tätig gewesen ist und er die Entwicklung der politischen Verwaltung seit 1717, seit der Errichtung des Feudalbaus der Geheimen Hof- und Staatskanzlei, konzis zusammenfassen und bewerten kann. Schon um 1717 wurde deutlich, wie wichtig die damalig barocke Palais-Baukonjunktur war, um die absolutistischen Herrschaftsansprüche öffentlich sicht- und spürbar zu machen. Dahinter steckt politisches Konkurrenzdenken – damals wie heute; in diesem Sinne wiederholt sich die Geschichte, wie uns gerade Minister, die in diversen Palaisbauten aus dieser Zeit agieren, wieder vorführen.

Damals wie heute

Was dieses Buch entscheidend von kunsthistorischen Darstellungen abhebt, ist die tiefe historische Kontextualisierung – so in der Darstellung des ersten "großen Kanzlers" unter Kaiserin Maria Theresia, Wenzel Anton Graf von Kaunitz-Rechberg, der im aktuellen Maria-Theresia-History-Boom unberücksichtigt bleibt. Dicht ist die Rekonstruktion der politischen Wirkungsmacht des ehemaligen Kutschers Europas, Fürst Metternich. Wer sich schnell und profund über den Wiener Kongress informieren will, soll dieses Kapitel lesen. Was überdies in den rezenten Metternich-Biografien nicht Berücksichtigung findet, ist das soziale Umfeld des rigiden Staatskanzlers, wie die Darstellung der Arbeitszeiten in einem 16-Stunden-Arbeitstag und der Hungerlöhne der Dienstboten im Palais am Ballhausplatz dokumentiert. Aber auch das Fest zum 80. Geburtstag des aus dem englischen Exil zurückgekehrten Fürsten wird fantasievoll beschrieben – inklusive aller damals noch lebenden Geliebten.

So subtil und informativ die Darstellungen über 300 Jahre Geschichte um den Ballhausplatz sind, so gelungen ist überdies die Auswahl der Abbildungen – von den Plänen bis hin zu den Fotos -, darunter längst verdrängte Bilder wie von der Ehrenwache 1939 vor der Gedenktafel neben dem Eingang am Ballhausplatz für die getöteten Nazi-Putschisten des Jahres 1934. Dass heute an der Stelle am Ballhausplatz, an der in Erinnerung an den 1934 erschossenen Kanzler-Diktator Dollfuß ein Denkmal von Clemens Holzmeister errichtet werden sollte, ein Denkmal für die hingerichteten Opfer der NS-Wehrmachtsjustiz steht, zeigt die verschlungenen Wege der Vergangenheits- und Geschichtspolitik in Österreich.

Wer mehr über die politische Bewertung der Kanzler der letzten zwei Jahrzehnte lesen will, muss genau zwischen die Zeilen schauen, aber seine Schlussfolgerung ist klar: "Wenn am Ballhausplatz nicht die große Politik gemacht wird, nicht die großen Strategien entwickelt werden, verkommt er zu einer Verwaltungszentrale (...). Und schließlich hat man sich hier im Haus wohl auch zu sehr den Medien ausgeliefert (...). Wenn es aber keinen Inhalt und kein Produkt mehr gibt, sondern nur mehr Verpackung, wird auch die Stätte, an der das Produkt erzeugt wird, uninteressant und bedeutungslos." Aber Matzka bleibt vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung gelassen und hofft auf "starke und interessante Phasen". (Oliver Rathkolb, 3.6.2017)