Lüge, Betrug und Täuschung zählten einst zum politischen Standardrepertoire antiker Diktaturen, absoluter Monarchien der frühen Neuzeit und totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts. Aus welchem Grund aber halten sich Lügen so nachhaltig in den Zentren gegenwärtiger Demokratien? Ausgerechnet in jenen Staatsgebilden, die sich dem zivilisatorischen Fortschritt verschrieben und die Grundtugenden des Gesellschaftsvertrages auf ihre Fahnen geheftet haben?

Die Mesalliance aus Politik und Lüge währt bereits seit Jahrtausenden, vermutlich schreibt sie sich bereits vom Beginn der frühesten Hochkulturen her. Ein zentrales Charakteristikum der Lüge war und ist, dass derjenige, der lügt, weiß, dass er die Unwahrheit sagt. Das unterscheidet die Lüge vom Irrtum. Von politischen Sonderdeformationen notorischer Lügner abgesehen, die nur ab und zu oder versehentlich die Wahrheit sagen, besteht das zweite wesentliche Kriterium der Lüge in der Absicht zu täuschen.

Lügen und täuschen

Lüge und Täuschungsabsicht sind auch Vorboten sogenannter "Politmorde", die oftmals ohne Notwendigkeit in Regierungen und Parteien begangen werden. Im Vergleich zu Kriegsgebieten wie Syrien, in denen – möglicherweise – angeordnete Massenmorde an der Zivilbevölkerung mit Giftgas verübt wurden, sind diese harmlos. Doch die danach immer gleichen Dramaturgien an gegenseitigen Schuldzuweisungen beweisen, dass in jeder Runde der indezenten Beschuldigungen mindestens einer der Kontrahenten lügt.

Wenn also nicht Irrtümer infolge unvollständiger Information vorliegen, zeigt dies, dass offenes Lügen aufgrund von machtpolitischen oder geostrategischen Interessen einen integrativen Bestandteil der politischen Praxis bildet.

Hinsichtlich ihrer politischen Arroganz unterscheiden sich die gegenwärtigen Weltmächte kaum von den antiken, wie etwa dem Imperium Romanum. In beiden wurde bzw. wird die Rhetorik zum zentralen politischen Instrumentarium erhoben. Nicht der Wahrheitsgehalt, sondern der Zweck dominiert den politischen Diskurs.

Während die Rhetorik der Griechen und Römer noch zwischen der Kunst der Überzeugung und jener der Überredung unterschied, zelebriert die gegenwärtige politische Sprache die Rhetorik hauptsächlich als Selbstbefreiung von der Verpflichtung zur Wahrheit. Euripides war es, der das "Wahrsprechen" als einer der Ersten gefordert hatte, zweieinhalb Jahrtausende später erhoben nationalsozialistische und stalinistische Demagogen die Lügen, Täuschungen und den Betrug erneut zur politischen Methode. Damit setzten sie das dialogische Miteinander gesamtgesellschaftlich und final außer Kraft.

Das verbale Radikalböse

Die Umwertung der Wörter, die Verbalradikalismen, Verzerrungen und Vergiftungen der Sprache durchsetzten die Atemluft des öffentlichen Lebens. Die Hasssprache des Fanatismus oszillierte in der NS-Diktatur zwischen "Krankheit und Verbrechen" (V. Klemperer). Damals wie heute gab und gibt es das Wechselspiel aus persuasivem Vorsprechen der Führerfiguren und den rhetorisch gelenkten Antworten der Massen, nur die Kommunikationskanäle sind gegenwärtig andere. Denn die lügendurchtränkten politischen Täuschungsmanöver haben den Change-Prozess von der analogen zur digitalen Welt mühelos bewältigt. Das protopopulistische Gesetz gilt wie eh und je: Nicht die Wahrheit, sondern das für wahr Gehaltene reicht für das Gewinnen von Mehrheiten aus.

Vor allem in Wahlkämpfen haben Wahrheiten keine Konjunktur, da es nicht um diese geht, sondern primär nur um das Prestigepotenzial von Aussagen.

Plebiszitäre Demagogie hat den politischen Inhalt längst verdrängt. Es reicht aus, sich als "Homo politicus der Herzen" zu präsentieren; wichtig ist die Fähigkeit, "im erborgten Glanze" (F. Nietzsche) leben zu können, seine soziale und emotionale Intelligenz auszuspielen, dem Volk aufs Maul zu schauen und sich ganz tief in die Wählerschaft hineinzuversetzen – wenn nötig bis zur Charakterlosigkeit.

Das Habhaftwerden der Mehrheit steht im Zentrum des rhetorischen Marktes des Als und des Als-ob, doch der Kollateralschaden eines solchen Populismus ist gewaltig. Die sprachlich herbeigeführte Reduktion von Komplexität erzeugt jene Identifikationsräume, in denen sich gesellschaftliche Mehrheiten gerne einrichten; besonders dann, wenn sie nicht mehr an politische Partizipation glauben, ermattet sind und daher den perfiden Scheinlösungen auch vertrauen wollen.

Gerade in Zeiten der Entscheidungen, vor Wahlen etwa, gilt es für Wählerinnen und Wähler, aus der Täuschung herauszugelangen. In der Hoffnung, dass das Heraustreten aus der Täuschung, das "Ent-Täuschen", nicht zu einer Enttäuschung, sondern zu Erkenntnissen, zu Entscheidungen und dadurch zu jenem Handeln der politischen Akteure führen möge, das sich am "Wahrsprechen" orientiert. (Paul Sailer-Wlasits, 2.6.2017)