Fit bis ins hohe Alter: Robert De Niro und Sylvester Stallone im Film "Zwei vom alten Schlag". Demografen wollen ganze Bevölkerungen auf Gesundheit im Alter untersuchen.

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ÖAW-Demograf Marc Luy: "Sind die Kennzahlen zur Messung der Gesundheit nicht stichhaltig, kann man den Erfolg politischer Maßnahmen nicht überprüfen."

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STANDARD: Wie lange kann man in Österreich erwarten, im Alter gesund zu sein?

Luy: In unserem aktuellen Länderbericht für Österreich, den wir im Rahmen einer EU-weiten Untersuchung erstellen, haben 65-jährige Frauen eine sogenannte Restlebenserwartung von 21,8 Jahren, Männer eine von 18,5 Jahren. Laut Healthy-Life-Years-Kennzahl (HLY) der EU verbringen die Frauen 7,7 dieser 21,8 Jahre in guter Gesundheit, bei Männern sind es dagegen 8,4 der 18,5 Jahre. Das ist ein interessanter Punkt: Obwohl Männer eine geringere Lebenserwartung haben, können sie eine höhere Anzahl an gesunden Jahren erwarten.

STANDARD: Wodurch entsteht dieser Unterschied?

Luy: Die Untersuchung dieses sogenannten Geschlechterparadoxons war Thema meines letzten EU-Projekts, für das ich einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrats ERC erhalten habe. Einer der Gründe ist, dass Frauen mehr an chronischen Krankheiten leiden, während Männer öfter und früher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben. Eine ganz wichtige Erkenntnis aus meinem Projekt war aber, dass dieses Paradox gar nicht so allgemeingültig ist, wie es immer beschrieben wird. Das Phänomen hängt nämlich sehr stark davon ab, wie man Gesundheit letztendlich definiert.

STANDARD: Wo liegt dabei das Problem?

Luy: Die Bestimmung der gesamten Lebenserwartung ist relativ einfach: Man benötigt die Bevölkerungszahl und die Zahl der pro Jahr verstorbenen Menschen. Bei der Gesundheit ist es viel schwieriger. Da gibt es eine ganze Reihe verschiedener Definitionen und Kennzahlen, die den Gesundheitszustand einer Bevölkerung beschreiben. Im Zuge meines Projekts hat sich gezeigt, dass die Männer längst nicht nach jeder Berechnungsart gesünder sind. Es gibt durchaus Indikatoren, die anzeigen, dass Frauen nicht nur länger leben, sondern auch gesünder sind als Männer.

STANDARD: Sie haben vergangenes Jahr einen Consolidator Grant des ERC für die Untersuchung der gesunden Lebenserwartung bekommen. Sind Sie durch diese Diskrepanzen auf die Idee für das Projekt gekommen?

Luy: Ja. Der Schlüsselmoment war aber eine Konferenz im Jahr 2015. Dort sollte ein Zwischenresümee der Europe-2020-Strategie der EU gezogen werden, die unter anderem vorsieht, die gesunde Lebenserwartung bis 2020 um zwei Jahre zu erhöhen. Dort wurde gezeigt, dass trotz aller Maßnahmen und trotz gestiegener Lebenserwartung die gesunden Jahre nahezu gleich geblieben sind. In vielen Ländern sind sie sogar zurückgegangen. Man zog den Schluss, dass das Ziel kaum erreichbar sein wird. Mein Einwand war, dass man sich hier Statistiken für die Restlebenserwartung ab 65 ansieht und mit einem EU-Ziel vergleicht, das sich auf die Lebenserwartung ab Geburt bezieht. Das Ergebnis wird dadurch stark verzerrt.

STANDARD: Inwiefern?

Luy: In Bezug auf die Restlebenserwartung im Alter von 65 sind zwei Jahre ein viel größerer Prozentanteil als bezogen auf die Gesamtlebensdauer. Es ist ein großer Unterschied, ob ich das gesunde Lebensalter um drei oder um 25 Prozent anheben muss, um an mein Ziel zu kommen. Daneben gibt es eine Reihe weiterer technischer Feinheiten, die diese Kennzahl der gesunden Lebenserwartung beeinflussen, aber bei ihrer Interpretation nicht berücksichtigt werden. Mir ist klar geworden, dass man sich die Sache systematisch anschauen sollte.

STANDARD: Welche Aspekte gibt es da zu berücksichtigen?

Luy: Es muss klar werden, dass das Maß der gesunden Lebenserwartung nicht so eindeutig ist wie jenes der allgemeinen Lebenserwartung. Wie definiert man Gesundheit? Wie werden die Zahlen durch die Erhebungsmethoden selbst beeinflusst? Die Wahl der Stichprobe und die Berücksichtigung des Berichtsverhaltens der Befragten spielen eine große Rolle. Die Antworten hängen etwa vom Geschlecht oder der sozialen Schicht ab. Für jemanden, der sich wenig bewegt, sind Knieschmerzen vielleicht kein so großes Problem wie für einen Sportler. Ob man die Daten in Fünf- oder Zehnjahresgruppen zusammenfasst, kann ebenfalls Einfluss auf das Ergebnis haben. All diese Beispiele zeigen, wie genau man sich mit Definitionen und Berechnungsweisen beschäftigen muss, um zu einem aussagekräftigen Ergebnis zu kommen.

STANDARD: Wie wird für die EU-Statistiken die gesunde Lebenserwartung berechnet?

Luy: Der Gesundheitsindikator, den die EU-Kommission verwendet und der auch hinter den genannten Zahlen für Österreich steht, ist der Global-Activity-Limitation-Indikator (GALI). Er basiert auf der Frage, ob die Menschen in den vorhergehenden sechs Monaten durch ein gesundheitliches Problem im Alltagsleben eingeschränkt waren. Als wir den Antrag für das Projekt schrieben, sind laut dieser Kennzahl die gesunden Lebensjahre seit 2010 in 45 Prozent der Länder Europas zurückgegangen. Das war also tatsächlich sehr alarmierend. Dann haben wir das gleiche mit jenem Indikator durchgerechnet, den UN und WHO verwenden. Dieser Global-Burden-of-Disease-Indikator (GBD) wird ganz anders bestimmt. Nach diesem hat sich die gesunde Lebenszeit in nur 6,5 Prozent der Länder reduziert. Das zeigt, wie stark die Auswirkungen der Definition von Gesundheit sind.

STANDARD: Wie erklärt sich der Unterschied?

Luy: Hinter dem GBD-Indikator steckt eine komplizierte Berechnungsmethode, die von Sterblichkeit und Todesursachen bis zur Häufigkeit bestimmter Krankheiten hunderte statistische Faktoren miteinbezieht und gewichtet. Die Kennzahl gesteht jenen Gesundheitsproblemen, die mit hohem Sterberisiko verbunden sind, besonders starke Bedeutung zu. Dem GALI-Indikator der EU liegt mit der Frage nach den Einschränkungen im täglichen Leben eine ganz andere Auffassung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen zugrunde.

STANDARD: Welche Konsequenzen haben die unterschiedlichen Ansätze?

Luy: Die Beantwortung der vielleicht wichtigsten Frage, ob wir mit dem Anstieg der Lebenserwartung gesunde oder nicht gesunde Zeit gewinnen, hängt davon ab, welchen Indikator wir verwenden. Gleiches gilt für die Untersuchung sozioökonomischer Unterschiede, also etwa, wie Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung zusammenhängen. In der Politik wird viel gemacht, um die Gesundheit zu verbessern und Ungleichheiten zu reduzieren. Wenn die Kennzahlen zur Messung der Gesundheit nicht stichhaltig sind, kann man den Erfolg dieser Maßnahmen nicht überprüfen. Die Gesundheit im Alter wirkt sich auch stark auf die Produktivität einer Bevölkerung aus, was vor allem vor dem Hintergrund der voranschreitenden demografischen Alterung bedeutsam ist. Es ist daher sehr wichtig, den Gesundheitszustand der Bevölkerung richtig einzuschätzen.

STANDARD: Wie kann Ihre Arbeit dazu beitragen, dass die gesunde Lebenserwartung künftig genauer berechnet wird?

Luy: Dass man der Kennzahl der gesunden Lebensjahre eine so wichtige Rolle zugesteht, ist eine recht neue Entwicklung. Die Politik möchte natürlich eine einfache Kennzahl haben. Die Frage ist: Kann es tatsächlich einen einzelnen Indikator geben, der die Gesundheit im Gesamten abbildet? Oder braucht es doch eine komplexere Darstellung, die verschiedene Dimensionen der Gesundheit berücksichtigt? Die Kennzahlen, die wir jetzt haben, unterliegen einer intensiven Entwicklung. Wir möchten dabei feststellen, ob man damit tatsächlich das abbildet, was man abbilden möchte. (Alois Pumhösel, 9.6.2017)