In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schuf der Künstler Banksy dieses Graffito an einer Hauswand in Dover. Ebenso überfallsartig hatte Ministerpräsidentin May Neuwahlen ausgerufen.

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Bloß nicht über den Brexit reden. Das ist der oberste Grundsatz, wenn Lucy France aus Prestwich bei Manchester mit ihrer erweiterten Familie zusammenkommt. "Meine Großmutter, meine Tante und mein Onkel haben für den Austritt gestimmt, alle anderen dagegen", berichtet die Sprechstundenhilfe (28) und erinnert sich mit Schaudern an die Diskussionen davor. Ist der Riss knapp ein Jahr nach dem Brexit-Votum verheilt? Kein bisschen, sagt France: "Wir vermeiden das Thema."

Nach diesem Grundsatz handelten im Wahlkampf auch die großen Parteien, jedenfalls in Bezug auf die wichtigen Fragen: Wie ist Großbritannien vorbereitet auf die in zehn Tagen beginnenden Verhandlungen mit der EU der 27? Und welche zukünftige Anbindung soll das Land haben an den größten Binnenmarkt der Welt und wichtigsten Handelspartner vor der Haustür? Statt hierauf detaillierte Antworten zu geben, beschränkten sich die Kontrahenten im Rennen um Downing Street 10 auf wohltönende Worthülsen.

Dabei hatte Premierministerin Theresa May Mitte April den vorgezogenen Urnengang mit der Notwendigkeit begründet, sie brauche vom Wahlvolk ein klares Mandat für die Brexit-Verhandlungen der kommenden Jahre. Anfang Mai trat sie dann nach einem missglückten Abendessen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor ihren Amtssitz in und bezichtigte "einige in Brüssel", sie würden den Verhandlungen keinen Erfolg wünschen. Ja, schlimmer noch: Durch Druck auf London solle "das Resultat der Unterhauswahl beeinflusst" werden. Verantwortungsträger in Brüssel und Berlin sprachen daraufhin kopfschüttelnd von einem "hohen Maß an Empfindlichkeiten" auf beiden Seiten. Soll heißen: Mit ihrer Feindseligkeit hat sich die ohnehin als spröde geltende Premierministerin keine Freunde gemacht.

"Große nationale Mission"

Wenn sie bei Wahlkampfauftritten über den Brexit sprach, schwärmte die Konservative gern von "einer großen nationalen Mission". Hinkriegen könne man die Abkehr von 43 Jahren britischer Außenpolitik nur dann, "wenn man daran glaubt", vertraute May dem Wahlvolk an.

Das deutet auf einen Gesinnungswechsel der angeblich "starken und stabilen" Regierungschefin hin: Vor dem Referendum im vergangenen Juni hatte sich die damalige Innenministerin, wenn auch zaghaft, für den EU-Verbleib ausgesprochen, nicht zuletzt mit Verweis auf ein hochaktuelles Thema. "Wir müssen im Kampf gegen Kriminelle und Terroristen mit anderen zusammenarbeiten", sagte May damals.

Hingegen drohte sie in ihrem Austrittsbrief Ende März unterschwellig mit britischer Bockigkeit, falls der Brüsseler Club dem abtrünnigen Partner nicht entgegenkomme: "Ohne eine Vereinbarung würde unsere Kooperation im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus geschwächt."

Die Möglichkeit, dass die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt ohne Austrittsabkommen die EU verlässt, brachte May auch im Wahlkampf immer wieder ins Spiel. "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal", lautet das Mantra der Regierungschefin. Dabei sei gar keine Vereinbarung "der schlechteste Deal von allen", glaubt Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Natürlich könne Großbritannien außerhalb der EU gedeihen, aber: "Unsere Wirtschaft braucht den bestmöglichen Zugang zum europäischen Markt."

Was genau damit gemeint ist, ließen Corbyn und sein Brexit-Spezialist Keir Starmer stets offen. Im Unterhaus hatten sie indirekt Mays Kurs auf einen harten Brexit mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion zugestimmt. Der Parteichef kämpft in EU-Fragen ohnehin mit einem Glaubwürdigkeitsproblem, das die May'sche Kehrtwende weit in den Schatten stellt. Corbyn ist ein eingefleischter Skeptiker der europäischen Zusammenarbeit, stimmte beim ersten Referendum 1975 für den Austritt aus der damaligen EWG, verweigerte auch allen Integrationsverträgen (Maastricht, Amsterdam, Lissabon) seine Zustimmung. Im Referendumskampf setzte er sich auf Druck seiner Fraktion für den Verbleib ein, seine Anstrengung blieb jedoch allenfalls stark begrenzt.

Lib Dems wollen bleiben

Mit großer Begeisterung, den Umfragen nach aber ohne Gegenliebe vom Wahlvolk, machten sich die Liberaldemokraten für den unbedingten Verbleib im Binnenmarkt stark und redeten einer zweiten Volksabstimmung das Wort. Dafür gibt es kaum Zustimmung. Zwar hält dem Meinungsforscher Yougov zufolge eine knappe Mehrheit (45 zu 43 Prozent) den Brexit im Nachhinein für schlecht, gleichzeitig wollen aber zwei Drittel an der einmal getroffenen Entscheidung festhalten. So seien die Briten nun einmal, glaubt Professor Simon Hix von der London School of Economics: "Das Gefühl ist: So ist es entschieden, nun machen wir's auch." (Sebastian Borger aus London, 8.6.2017)