Elías Pino Iturrieta: "Die Geschichte ist eine sehr schlechte und faule Lehrerin."

Foto: Fundación para la Cultura Urbana

STANDARD: Im Ausland wird der Konflikt in Venezuela oft als Konfrontation zweier Ideologien betrachtet. Ist das korrekt?

Pino: Nein, es gibt keine Konfrontation zweier unterschiedlicher Denkrichtungen. Das Regime hat von Anfang an nur ein veraltetes (sozialistisches) Gesellschaftsmodell neu angestrichen. Wie kann man über etwas diskutieren, das nichts Neues bietet und schon ausgiebig besprochen wurde? Auch die Opposition ist eine Mischung aus heterogenen Visionen, denen eine umfassendere Analyse und ein theoretischer Hintergrund fehlen. Insofern sehe ich keine ideologische Konfrontation.

STANDARD: Die Regierung macht den Imperialismus, also die USA, für die Destabilisierung Venezuelas verantwortlich ...

Pino: Die USA verfolgen die Ereignisse in Venezuela sehr aufmerksam. Da sind materielle Interessen im Spiel, aber auch die Sorge um die Kontakte zwischen einigen venezolanischen Politikern und dem Drogenhandel. Das bedeutet nicht, dass es einen imperialistischen Plan gibt, um die Souveränität Venezuelas zu sabotieren. Die chavistische Version einer makabren Operation gegen eine nationalistische Revolution gehört ins Reich der Fantasien und Übertreibungen unserer Linken.

STANDARD: In Venezuela begann die linke, sozialistische Welle in Lateinamerika. Zugleich gab es hier auch am meisten Widerstand dagegen. Wie erklärt sich das?

Pino: Wir erleben eine Neuauflage der Konfrontation zwischen der Republik und der Antirepublik – ein Konflikt, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Personalistische Regime sind wir seit der spanischen Kolonialzeit gewöhnt. Schon vor der Entdeckung des Erdöls waren wir ein Volk, das sich lieber vom Staat aushalten ließ, als zu arbeiten. Das ist das eine. Und gleichzeitig haben wir mit offenen Armen liberales und demokratisches Gedankengut empfangen und umgesetzt, zum Beispiel ab 1945 nach dem Sturz von Diktator Juan Vicente Gómez und ab 1958 nach dem von Marcos Pérez Jiménez. Das erklärt ein wenig die Verwirrung. Anfangs löste Hugo Chávez, den viele für einen Erlöser hielten, Enthusiasmus aus. Aber zugleich gab es immer auch republikanischen Widerstand.

STANDARD: Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was gerade in Venezuela stattfindet. Einige sprechen von Anarchie, andere von der ersten Bürgerrevolution des 21. Jahrhunderts. Wie sehen Sie es?

Pino: Was derzeit hier passiert, ist wirklich noch nie da gewesen. Es ist eine Massenbewegung der Bürger gegen die Machthaber. Wir hatten Bürgerkriege, Verschwörungen und Staatsstreiche, aber das ist alles nicht vergleichbar. Das ist eine neue Erfahrung – und nicht frei von Risiken. Ich habe den Eindruck, alle zusammen schreiben wir gerade ein neuartiges Kapitel unserer Geschichte, jenseits alter Traditionen und Rezepte. Mich als Historiker fasziniert das.

STANDARD: Anfangs hatte die Revolution großen Rückhalt und konnte durchaus sozialen Fortschritt präsentieren. Welche Fehler hat Chávez dann begangen?

Pino: Zu glauben, dass mit ihm die Geschichte der Korruption und dunklen Machenschaften endete und eine neue, goldene Ära begann; dass das Land mit ihm an der Spitze die Sünden der Vergangenheit hinter sich ließ. Aber die Last der Geschichte lässt sich nicht so leicht abstreifen, sondern kommt in neuem Gewand, mit neuen Formen wieder.

STANDARD: Und welche Fehler machte die Opposition?

Pino: Als Chávez erstmals gewann, waren die bürgerlichen Parteien nur noch ein Schatten ihrer selbst, veraltet, ohne Vision. Die Anführer waren tot oder steinalt. Diese Schwäche erleichterte Chávez’ Vorhaben. Aber dann wuchsen die jüngeren Generationen heran, die in der Demokratie aufgewachsen waren und nichts mit den alten Parteien am Hut hatten, und begannen, das Vakuum zu füllen. Chávez konnte sie nicht mit der diskreditierten Vierten Republik in Verbindung bringen. Auch die Bevölkerung sah in ihnen eine Neuigkeit und hob sie auf ihren Schild. Ihre Fehler waren ihrer Unerfahrenheit geschuldet. Und vieles hat auch damit zu tun, dass man nicht über Nacht zur Führungsfigur wird.

STANDARD: Heute haben Populisten jeder Couleur ja Konjunktur, auch in Europa. Was können wir vom venezolanischen Beispiel lernen?

Pino: Die Geschichte ist eine sehr schlechte und faule Lehrerin. Aber wir Venezolaner haben sie in den vergangenen Jahren durchwühlt, um in ihr Antworten und Orientierung in diesem Puzzlespiel zu finden. Das ist für uns Historiker gut, denn plötzlich sind wir wieder gefragt, und man glaubt, wir könnten die Gegenwart beeinflussen. Aber ich glaube: Damit sind wir überfordert. Im Ausland können sie noch weniger von uns lernen, denn niemand lernt, indem er anderen zuschaut. (10.6.2017)