Bild nicht mehr verfügbar.

Theresa May am Freitagmorgen.

Foto: AP/Augstein

Beinahe konnte einem Theresa May leidtun. Mit eingefrorener Miene stand die Premierministerin im Auszählungszentrum von Maidenhead ganz rechts in der langen Reihe der 13 Kandidaten ihres Wahlkreises. Während die teils bescheidenen Ergebnisse für die zwölf anderen verlesen wurden – drei, 16 und 69 lauteten die Tiefstmarken –, arbeitete es im Gesicht der mit 37.718 Stimmen wiedergewählten Abgeordneten. Als die 60-Jährige endlich ihre Dankesrede halten konnte, schien sie zeitweilig mit der Fassung zu kämpfen. Zweimal binnen einer Minute sprach die konservative Parteichefin davon, das Land brauche "eine Stabilitätsperiode".

Ach, wirklich? Genau mit diesem Argument hatte May nach ihrer Machtübernahme im vergangenen Juli monatelang Nachfragen nach vorgezogenen Neuwahlen abgewehrt. Tatsächlich verfügten die Torys im Unterhaus über eine Mehrheit von 17 Mandaten, bei allen wichtigen Themen erhielten sie zudem stets die Unterstützung der nordirischen Unionisten. Für den offiziellen EU-Austritt nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags, das wichtigste Projekt ihrer Amtszeit, stimmten vier Fünftel aller Abgeordneten. Stabiler geht es kaum.

Mantrahafte Parole

Trotzdem brach May Mitte April ihr Wort und eine vorgezogene Neuwahl vom Zaun. Den anschließenden Wahlkampf bezeichneten am Freitag selbst viele Tories wie die knapp wiedergewählte Ex-Staatssekretärin Anna Soubry als "furchtbar": Roboterhaft wiederholte May die Parolen, die der australische Wahlkampfleiter Lynton Crosby vorgab, sprach von "stabiler und starker Führung". Bereits vier Tage nach Veröffentlichung des Programms für die nächste Legislaturperiode musste sie nach heftigen Protesten der eigenen Klientel von einem der Eckpunkte, der Reform der Altenpflege, wieder Abstand nehmen. Ihre Weigerung, an einer TV-Debatte mit ihrem Herausforderer Jeremy Corbyn teilzunehmen, ließ sie arrogant erscheinen.

Am Donnerstag erhielt die Premierministerin die Quittung: Der von ihr angestrebte Erdrutschsieg blieb aus, aller Voraussicht nach haben die Tories trotz eines Stimmenzuwachses von rund sechs Prozent mehr als zehn Mandate verloren, die prognostizierten 318 Mandate reichen nicht zur eigenen Mehrheit im neuen Unterhaus. Die Wähler haben May gedemütigt – und Mitleid für sie wäre verfehlt.

Unbeirrter Corbyn

Hingegen gebührt Labour-Boss Corbyn großer Respekt: Unbeirrt von brutalen Angriffen der rechten Boulevardpresse und dem passiven Widerstand großer Teile der bisherigen Fraktion verfolgte der linke Veteran, 68, seine Kampagne: hoffnungsvoll, dynamisch, mit klar umrissenen Reformideen wie der Verstaatlichung von Eisenbahn und Post sowie mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser. Mag die Finanzierung solcher Vorhaben auch mehr als vage geblieben sein – erstmals seit einem Vierteljahrhundert kämpfte die alte Arbeiterpartei von einer klar linken Position aus, die in vielerlei Hinsicht dem kontinentaleuropäischen Mainstream entspricht. Corbyn gelang es vor allem, die junge Generation mitzureißen und, viel wichtiger, zum Gang an die Wahlurne zu bewegen. Zehn Prozentpunkte Zuwachs auf 40 Prozent der Stimmen sowie rund 30 Mandatsgewinne waren der Lohn. Die Wahl komme "einer Revanche der Jugend für den Brexit" gleich, glaubt der konservative Ex-Parlamentarier und Autor Matthew Parris.

Wie es mit dem schwierigsten Vorhaben der nächsten Monate nun weitergehen soll? Wenn alle Stimmen ausgezählt sind, dürfte May mithilfe kleinerer Parteien im Amt bleiben können. Eine Position der Stärke sieht anders aus, die Verhandlungen mit Brüssel werden mit der angeschlagenen Regierungschefin nicht leichter werden. Innerparteiliche Rivalen wie Boris Johnson und David Davis bereiten sich darauf vor, die waidwunde Parteichefin aus dem Feld zu schlagen. Eine weitere Neuwahl in den kommenden zwölf Monate wäre alles andere als eine Überraschung. (Sebastian Borger aus London, 9.6.2017)