May-Gegner in der Downing Street

Wie viele englische Vokabeln hat auch das Wort "Mayhem" einen kontinentaleuropäischen Ursprung. Es kann seine Verwandtschaft mit dem Verb maim (verstümmeln) nicht leugnen, das Lexikon gibt eine ebenso präzise wie knappe Übersetzung: Chaos.

An Glaubwürdigkeit und Macht verstümmelt steht Theresa May an diesem Wochenende vor einem selbstverschuldeten Chaos. Mutwillig hat die britische Premierministerin eine unnötige Unterhauswahl vom Zaun gebrochen. Dann führte die 60-Jährige eine Wahlkampagne, von der sogar ein Loyalist am Freitagmorgen sagte, seine Partei habe sich nicht ins Knie, sondern in den Kopf geschossen.

Im Zeitalter permanenter Selbstentblößung und schreienden Voyeurismus' verkörpert May altmodische, beinahe vergangen geglaubte britische Tugenden: Verschwiegenheit, Scheu vor großen Gesten, Reserviertheit bis zur Kühle. Wohltuend hob sich die zugeknöpfte Pfarrerstochter ab von den alphamännlichen Marktschreiern wie David Cameron und Boris Johnson. Auch deshalb fiel ihr im vergangenen Sommer nach dem Brexit-Votum und dem anschließenden politischen Mayhem in London das höchste Regierungsamt zu.

Ruhe und Stabilität

Kompetent hat May ihre Partei stabilisiert und Ende März den vom Volk knapp befürworteten EU-Austritt eingeläutet. Und bis Mitte April galt, was die Politikerin bei jeder Gelegenheit beteuerte: Das Land brauche Ruhe und Stabilität – vorgezogene Neuwahlen seien "nicht im nationalen Interesse".

Dann, plötzlich, verkündete May das genaue Gegenteil: Auf einmal sollte das Interesse des Landes darin bestehen, das Unterhaus neu zusammenzusetzen. In Wirklichkeit ging es aber um das Interesse ihrer Partei: Angesichts anhaltender Umfragewerte, die den Konservativen einen Vorsprung von bis zu 20 Punkten vor Labour attestierten, wollte die Premierministerin einen Erdrutschsieg feiern – nicht zuletzt mithilfe von Wählern der EU-feindlichen, als Partei in Trümmern liegenden Ukip.

Politischer Kardinalfehler

Was viele Kommentatoren achselzuckend abtaten nach dem Motto "So sind Politiker nun einmal", war in Wirklichkeit ein politischer Kardinalfehler. Plötzlich sah Mays Reserviertheit aus wie Arroganz, wirkte ihre Abgeneigtheit gegenüber politischer Show wie emotionale Verarmung, wurde aus angenehmer Verschwiegenheit uncharmante Phrasendrescherei.

Im gleißenden Scheinwerferlicht der Wahlkampagne kam eine höchstens zweitrangige Kommunikatorin politischer Botschaften zum Vorschein. Ehrlicherweise hätte Mays Leitmotiv lauten müssen: Ich weiß zwar auch nicht genau, was ich will, aber lasst mich nur machen. Dazu sind die Briten zum Glück zu misstrauisch.

Für Jeremy Corbyn gilt beinahe spiegelbildlich: Der Labour-Vorsitzende ist aus dem Schatten seines eigenen Zerrbilds getreten. Unbeirrt von brutalen Angriffen der rechten Boulevardpresse und dem passiven Widerstand großer Teile der bisherigen Fraktion verfolgte der linke Veteran, 68, seine Kampagne: hoffnungsvoll, dynamisch, populistisch, mit klar umrissenen Reformideen wie der Verstaatlichung von Eisenbahn und Post sowie mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser.

Labour (fast) im europäischen Mainstream

Mag die Finanzierung solcher Vorhaben auch mehr als vage geblieben sein – erstmals seit einem Vierteljahrhundert kämpfte die alte Arbeiterpartei von einer klar linken Position aus. Weil May ihr Programm in der Mitte angesiedelt hatte, ist es Corbyn auf einen Schlag gelungen, Großbritanniens politische Debatte ein Stück weit nach links zu zerren. Kurioserweise entspricht die Brexit-Insel damit erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder mehr dem kontinentaleuropäischen Mainstream.

Beide großen Parteien verzeichneten einen großen Stimmenzuwachs. Mindestens in England, dem übermächtigen Teil des Vereinigten Königreichs, ist das schon verloren geglaubte Zweiparteiensystem mit Macht zurück. Landesweit haben die nationalpopulistische Ukip und die Liberaldemokraten, in Wales und Schottland auch die jeweiligen Nationalisten an Boden verloren. 2015 entschieden sich kaum mehr als zwei Drittel (67,4 Prozent) der Briten für Tories und Labour, diesmal waren es 82,4 Prozent.

Verdienstvoller Corbyn

Corbyns großes Verdienst ist vor allem, dass er die junge Generation nicht nur mitriss, sondern auch zum Gang an die Wahlurne bewegte. Dass die Beteiligung so hoch lag wie bei Unterhauswahlen seit 20 Jahren nicht mehr, sollte jeden Demokraten freuen, zumal über dem Urnengang der dunkle Schatten des islamistischen Terrors lag. Dem Linksaußen die Geschicke des Landes anzuvertrauen, dazu fehlte den Briten dann aber doch die Experimentierfreude.

May erhält also eine allerletzte Chance, wenn auch innerparteiliche Rivalen wie Boris Johnson und David Davis die waidwunde Chefin belauern. Sie ist jetzt auf die nordirischen Unionisten angewiesen, denen ein Ausgleich mit Brüssel stärker am Herzen liegt als manch englischem Nationalisten in der konservativen Fraktion.

Die Premierministerin hat Gelegenheit, ihren Kurs auf einen bedingungslosen harten Brexit zu überprüfen. Die 60-Jährige muss ihren Stil ändern, konsensualer Politik machen, die Interessen der 48 Prozent Brexit-Gegner im Auge behalten. Sonst wird sie das Jahresende nicht in der Downing Street erleben. (Sebastian Borger aus London, 9.6.2017)