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Der 1960 in Mexiko-Stadt geborene Künstler Guillermo Galindo baute für die diesjährige Documenta Musikinstrumente aus den Wrackteilen von Flüchtlingsbooten.

Foto: AP / Jens Meyer

Ein Obelisk am Königsplatz mit der viersprachig gehaltenen Aufschrift "Ich war ein Fremder und ihr habt mich aufgenommen" war ein Vorbote. Jenes spektakuläre mit (verbotenen) Büchern gespickte Tempelgerüst am Friedrichsplatz ebenso: Ab heute steht Kassel wieder für 100 Tage im Zeichen der Gegenwartskunst, wenn die alle fünf Jahre stattfindende Documenta ihre Tore öffnet.

Wobei im Jahr 2017, bei der Documenta 14, von Grund auf alles ein wenig anders läuft. Chefkurator Adam Szymczyk (geb. 1970) lässt die Großausstellung erstmals gleichberechtigt auch in Athen stattfinden, wo es schon im April losging (der STANDARD berichtete). "Lernen von Athen", so lautete das Motto, das nun in einer Pressekonferenz noch einmal erörtert wurde: Szymczyk denkt an ein Lernen, das auf einem "Verlernen" dessen beruht, was wir zu wissen glauben. Die große Lektion bestehe darin, dass es keine große Lektion gebe. Die Weitergabe des Wissens vom Meister zum Schüler solle aufgelöst werden. Zuvor hatte Kurator Bonaventure Ndikung von den politischen Gefahren einer mit Gewissheit überspielten Ungewissheit gesprochen.

Verwirrung in Athen

In Athen sorgte die Umsetzung der wohlmeinenden Idee der Enthierarchisierung für Verwirrung. Eher, als dass man dort zu einer neuen Sprache über Kunst gefunden hätte, fühlte man sich verloren angesichts von Arbeiten, die auf ihren Kontext angewiesen wären. So gesehen möchte man nun in Kassel meinen, es hätte zumindest schon einmal die Kuratorenschaft von Athen gelernt. Es finden sich hier nämlich, da und dort, ausführlichere Beipacktexte an den Wänden.

Die bis dato genommene Stichprobe könnte aber auch trügen, denn die Wege, die Kunstbetrachtern offenstehen, sind zahlreich. 30 Orte umfasst die Schau, Werke von 160 Künstlern wollen betrachtet, gehört, empfunden werden. Da die Teilnehmerliste dieselbe wie in Athen ist, wirkt die Kasseler Schau stellenweise ein wenig wie ein Remix, in dem sich vorteilhafterweise auf manche Arbeiten neue Perspektiven auftun können – jedenfalls, wenn man sich's antut, beide Schauplätze zu besuchen.

Entlernen mit Schwerpunkt

Mit welchem Schwerpunkt hier "entlernt" werden soll, machte Szymczyks Team ebenfalls klar: Im Zentrum stehen Themen wie Flucht und Migration, die Aufarbeitung der Kolonialismusgeschichte, unser Umgang mit dem "Anderen", aber auch Fragen nach der Rolle des Museums und der Kunst für die politische Identitätsstiftung. Sinnbildlich dafür mag es stehen, wenn in der Neuen Galerie acht Länderallegorien aus dem 19. Jahrhundert in die Nähe von Arbeiten Lorenza Böttners rücken: Der deutsch-chilenische Künstler, dem nach einem Stromschlag beide Arme amputiert werden mussten, stellte immer wieder den eigenen Körper ins Zentrum seines Schaffens.

Dass die Kuratoren einen Hebel zur Weltverbesserung auch in alternativen Geschlechtermodellen sehen, mag ein Objekt Daniel Garcia Andújars illustrieren: Der Spanier zeigt einen regalartigen Aufbau, in den Nachbildungen klassischer Skulpturen "gesperrt" sind; über diesen Figuren thront dabei eine Plastikpuppe mit Brüsten und Penis – mit gereckter Faust. Es sind solche, mit Ambivalenz in der Aussage eher geizenden Arbeiten, die einen dann daran zweifeln lassen, wie sehr das Meister-Schüler-Verhältnis hier wirklich aufgelöst werden soll.

Zu sehen ist diese Arbeit jedenfalls in der "Neuen Neuen Galerie", die selbst einer Aneignung entspringt, insofern sie eigentlich ein ehemaliges Postzentrum ist. Während sich im Obergeschoß eine Fitnessstudiokette eingenistet hat, vermessen unten Tänzer mit langsamen Bewegungen die Räume des brutalistischen Baus. Atmosphärisch spannend, durchdringen sich hier in einer Lagerhalle monumentale und kleinere Arbeiten, während im zweiten Stock die Erzählung von der Umwälzung der Post-Arbeitswelt durch E-Mails beschworen wird. Zu entdecken ist hier eine so schöne wie unaufdringliche Reihe von Arbeiten der "Mail-Art".

Moment der Konzentration

Eine besondere Stellung nimmt unterdessen das Fridericianum ein, seit der Documenta-Gründung 1955 ein Herzstück der Großausstellung: Szymczyk zeigt dort die Sammlung des Athener Museums für zeitgenössische Kunst, die an ihrem Stammort aufgrund Geldmangels noch nie gezeigt werden konnte.

Szymczyks Geste, die Sammlung zu präsentieren, mag dabei stellenweise die Qualität der Arbeiten überragen – aber dennoch stellt sich just beim Überblicken der vielfältigen griechischen Sammlung ein schöner Moment der Konzentration ein. Zu entdecken ist hier – als Teil der Sammlung – übrigens auch einer der wenigen Österreichbeiträge dieser Documenta: Für eine Reihe von Videoarbeiten befragte Oliver Ressler internationale Politaktivisten zur Frage "What is democracy?". (Roman Gerold aus Kassel, 10.6.2017)