Manöver gelungen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Foto: AFP PHOTO / Philippe HUGUEN

Bild nicht mehr verfügbar.

La République en Marche erhielt am Sonntag 32,3 Prozent der Stimmen.

Foto: Reuters
Grafik: APA
ORF

Paris – Auf den ersten Blick ist alles klar – schon nach dem ersten Durchgang der französischen Parlamentswahlen. Im Élysée-Palast regiert die nächsten fünf Jahre ein Präsident, der auf eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung zählen kann. Rund 400 der 577 Sitze dürften in der Stichwahl an La République en Marche gehen – eine Bewegung, die erst seit April 2016 existiert und sich im Juli als eigentliche Partei namens La République en Marche (LRM) konstituieren wird. Die Formation der politischen Mitte räumt mit dem Blockdenken der 1958 gegründeten Fünften Republik radikal auf. Auch wird sie die Nationalversammlung meist mit jungen Köpfen besetzen, die bisher kaum oder gar keine Politik betrieben hatten.

Zu diesen rund 400 "Marschierern" (Marcheurs) werden sich in der ersten Parlamentskammer etliche Überläufer aus anderen Parteien gesellen. So etwa der frühere Premierminister Manuel Valls, der der Sozialistischen Partei den Rücken gekehrt hat: Dank des Macron-Labels "präsidiale Mehrheit" könnte er nächsten Sonntag den Parlamentssitz des Pariser Banlieue-Ortes Evry erobern. Macron hat ihm deshalb bewusst keinen En-Marche-Kandidaten entgegengestellt.

Alle französischen Großparteien sind am Sonntag eingebrochen. Die konservativen Republikaner, die noch vor wenigen Monaten fest mit einem Triumph gerechnet hatten, müssen sich mit 21,6 Stimmenprozent abfinden. Nur noch 100 der 577 Sitze winken ihnen in der Nationalversammlung – ein Debakel, das Bände spricht über die Führungs- und Orientierungslosigkeit der ehemaligen Chirac- und Sarkozy-Partei.

Verpatzter Wahlkampf

Selbiges gilt für den Front National, der am Sonntag auf 13,2 Prozent zurückfiel und wegen des Mehrheitswahlrechts nur eine Handvoll Kandidaten durchbringen dürfte, darunter – eventuell – Marine Le Pen. Auch sie laboriert weiterhin an ihrem verpatzten Präsidentschaftswahlkampf.

Nicht einmal zehn Prozent entfallen auf die Sozialisten – nur noch ein Schatten ihrer glorreichen Mitterrand- und Jospin-Vergangenheit. Weder Parteichef Jean-Christophe Cambadélis noch Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon schafften es in den zweiten Wahlgang. Noch nie seit 1958 fielen die Sozialisten so tief.

Alles scheint damit klar. Und doch trügt das Bild des Wahlmonarchen, der die absolute Macht, aber keine Gegner mehr hat. Macrons politische Legitimität ist schmäler, als es den Anschein hat. Der erste Durchgang der Parlamentswahl fand schließlich bei einer rekordtiefen Stimmbeteiligung von 49 Prozent statt. "Schuld war neben einer verständlichen Wahlmüdigkeit auch die Verwirrung der Wähler", meint der Politologe Roland Cayrol. "Die politische Positionierung Macrons wirkt unklar."

Der Erneuerer im Élysée räumt zwar bei den Wählern ab, doch viele wissen selbst nicht recht, wofür er politisch steht. Wenn die Pariser Medien von "Macronmania" sprechen, wie das die Zeitschrift L'Express tut, dann geschieht das mit einer gehörigen Prise Ironie. Le Figaro kommentierte am Montag, Macron habe "das alte System zerstört, aber die Franzosen noch nicht für sich gewonnen".

Le Canard Enchaîné berichtet in seiner neusten Ausgabe, der Präsident blicke selbst argwöhnisch auf die Hegemonie seines Lagers in der Nationalversammlung. "Wir werden viele Abgeordnete haben, vielleicht sogar zu viele", soll Macron im kleinen Kreis erklärt haben. "Wir werden sie an der kurzen Leine halten müssen, um einen Saustall zu vermeiden."

Eine größere Gefahr droht außerhalb des Parlaments. Wenn der Präsident die Nationalversammlung kontrolliert, wird sich der Widerstand noch stärker, als dies in Frankreich ohnehin üblich ist, auf die Straße verlagern. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon erklärte am Sonntagabend, Macrons Wahlsieg sei "unstabil" und ein "Trompe-l'OEil", also eine politische Sinnestäuschung. Der Ex-Rothschild-Banker habe es keineswegs geschafft, die Franzosen politisch zu versöhnen; im Gegenteil, er spalte die Nation mit seiner liberalen Arbeitsmarktreform.

Härtetest für den Präsidenten

Dieses Vorhaben wird immer mehr zum ersten Härtetest für das Macron-Lager. Die Linke und ihr wortgewaltiger Tribun Mélenchon werden noch vor den Sommerferien die sozialen Medien mobilisieren und im Herbst Massendemos veranstalten. Dann wird sich weisen, wie stark Macrons Position wirklich ist.

Viele Kommentatoren vergleichen En Marche mit dem Triumph des Sozialisten François Mitterrand 1981, als die "rote Welle" Frankreich sozial, ökonomisch und kulturell veränderte. Was der "Macronismus" bescheren wird, ist offen. Die Zeichen stehen nicht mehr auf sozialen Fortschritt; da Frankreich seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt hat, muss Macron vielmehr schmerzhafte Korrekturen anbringen. Fast scheint es, als sei dies den Franzosen noch nicht richtig bewusst geworden.

Torera ist Favoritin

Die ehemalige Stierkämpferin Marie Sara hat indes in der Camargue gute Chancen, ein Abgeordnetenmandat zu erringen. Im ersten Durchgang der Parlamentswahlen erzielte die 53-jährige Politnovin 32,15 Prozent der Stimmen. Damit holte sie nur 48 Prozent Stimmen weniger als ihr Widersacher vom Front National (FN), Gilbert Collard, der 13 991 Stimmen (32,27 Prozent) erhielt. Die dahinter platzierten Kandidatinnen der konservativen Republikaner und der linken "France insoumise" sind ausgeschieden; ihre Stimmen dürften sich mehrheitlich auf Sara übertragen. Allerdings gibt sich Collard – neben Marion Maréchal-Le Pen der derzeit einzige FN-Abgeordnete in der Nationalversammlung – in seinem angestammten Wahlkreis nicht geschlagen. Er setzt eine stärkere Stimmbeteiligung im entscheidenden Wahlgang in einer Woche. (Stefan Brändle aus Paris, 12.6.2017)