Mastermind Paul Carter (Porträtfoto rechts oben) und Flotation Toy Warning bereisen wieder die sieben Meere des Weltschmerzes.

Nainesh Shah

Wien – Manchmal ist es doch so: Man lernt jemand Neuen kennen, verbringt öfters Zeit mit ihm, und alles läuft ganz toll. Eines Tages sagt man dann nach einem Treffen: Bis demnächst, rufen wir uns zusammen – und dann passiert nichts mehr. Funkstille. Mildes Vergessen, neue Bekanntschaften.

Ab und zu tauchen mit der Zeit natürlich alte gemeinsame Fotos irgendwo in Schubladen oder im Internet auf. He, man sollte mal wieder anrufen. Aber nicht heute. Sagen wir, morgen. Nicht so schlimm, nach den Sommerferien ist auch noch ein Tag. Schließlich begegnet man eines weiteren Tages unverhofft einem auf der Straße, der einen freundlich grüßt, und man sagt sich, den kenne ich von irgendwoher, weiß aber gerade nicht, wo ich ihn hintun soll. Immerhin ist er grau und etwas schütter und abgelebter geworden, dafür ist aber beim Jeansgürtel nicht mehr so viel Spielraum.

Man nennt das wohl auch: Blick in den Spiegel. Dann schaltet jemand weiter hinten im Gedächtnis das Licht an. Die Sonne geht auf. Und die alte Freundschaft ist wieder derart vehement da, dass einem aus lauter Freude das Herz pumpert. Ja, hallo, wie geht's dir denn?! Verändert, du? Aber nein!

Maritime Metaphorik

Die ausnahmsweise ehrliche Antwort im konkreten Fall lautet: Danke, uns allen geht es super. 13 Jahre nach ihrem Debütalbum Bluffer's Guide to the Flight Deck haben sich Sänger und Kopf Paul Carter und Flotation Toy Warning dazu durchgerungen, diesem singulären Meisterwerk im Zeichen einer herzerweiternden Musik endlich neue Lieder folgen zu lassen. Die zehn Songs von The Machine that Made Us schließen dabei nahtlos an die alte Größe an.

Die Liebe Paul Carters und der nach aufblasbaren Strandurlaubutensilien benannten Band Flotation Toy Warning gehört dabei, wie wir unter anderem auf den neuen Stücken When the Boat Comes Inside Your House oder Controlling the Sea hören werden, nach wie vor der maritimen Metaphorik. Immerhin beschäftigte der Mann sich ja schon auf Bluffer's Guide to the Flight Deck mit der christlichen Seefahrt britischer Prägung, mit Entdeckungsreisenden des 19. Jahrhunderts und der Eroberung der Pole.

Unter besonderer Berücksichtigung einer schon vor 13 Jahren im Sand verlaufenen Weltkarriere werden von den live nach wie vor gelegentlich aktiven Londoner Musikern dabei auch die dazugehörigen Themenbereiche Einsamkeit und Schmerz, Verlust, Versagen und Verzweiflung geradezu euphorisch zelebriert:

"In my mind I was a star / Heaped in praise for my art / But I wasn't, not at all / My mother loved me / But not much more." Und weiter: "As a child I dreamed of travelling to Mars / But getting lonely needn't take you so far from home / Reading kids' encyclopedias – it's where I stole all of my best ideas, my friend."

Weltumarmende Chöre

Es geht 2017 nun also auch darum, Produktionsbedingungen offenzulegen. Wir weinen unter anderem zur schon vor zwei Jahren weitgehend unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit vorgeschickten Single A Season Underground oder zu tatsächlich neuen Trauerstücken wie Due to Adverse Weather Conditions All of My Heroes Have Surrendered oder King of Foxgloves Tränen der Rührung. Weltumarmende und gen Himmel fahrende Trunkenboldchöre torkeln frühmorgens Richtung Morgengischt an klammen britischen Stränden.

Auf denen tanzen schiefe Bläser-, Streicher- und Keyboardsätze. Es erheben sich trotzig majestätische Melodien, um zwischen molligen Akkordzerlegungen auf der Gitarre und einem Schlagzeug, das sich nicht zwischen schleppendem Trip-Hop und angezogenem Trauermarsch entscheiden kann, schließlich posttoxisch-depressiv in sich zusammenzufallen. Hoffnung? Aber hinter dem Horizont da draußen kann es doch nicht sein, dass die Schiffe alle einfach von der Weltscheibe runterkippen. Bitte, lass das nicht wahr sein!

Es ist ein verzweifelter Kampf um jene eine Erlösung von all dem selbstbefeuerten Jammer, der nicht mehr zwischen realem Leid und der Idee davon unterscheiden kann. Es ist dies das weite Land der Erschütterungsballade, in dem wir uns gemeinsam für eine knappe Stunde zwischen Procol Harum und Roy Orbison und der klassischen deutschen Schlagerschwermut eines Christian Anders befinden.

Manchmal kratzt eine gesampelte Plattennadel in der Vinylrille. Es sind alte Geschichten, die hier erzählt werden. Das klingt so bewegend wie eh und je – und ach und weh. Alte Freundschaften kann man auffrischen. Paul, kann ich bitte ein Taschentuch haben? (Christian Schachinger, 14.6.2017)