Ferry Maier / Julia Ortner, "Willkommen in Österreich? Was wir für Flüchtlinge leisten können und wo Österreich ver-sagt hat". € 19,95/ 178 Seiten, Tyrolia 2017

Ferry Maier: "Wenn die ÖVP eine christlich-soziale Partei sein soll, dann definiert sie das neuerdings anders."
Robert Newald

STANDARD: Sie haben mit der Journalistin Julia Ortner ein Buch über Ihre Tätigkeit als Flüchtlingsbeauftragter geschrieben. Warum, was soll man daraus lernen?

Maier: Zum Beispiel, dass die Gesprächsbasis zwischen den Verantwortungsträgern der Republik und den zuständigen Beamten mit NGOs und Zivilgesellschaft verbessert werden muss. Man muss verstehen, dass man nicht alles zentral planen kann, weil die Probleme auch unterschiedlich sind. Ich wünsche mir, dass der Respekt gegenüber den Bürgermeistern wächst, die Tolles in dieser Situation geleistet haben.

STANDARD: Sie beschreiben die Beamten des Innenressorts als von tiefem Misstrauen gegenüber NGOs geleitet und nicht hilfreich. In welcher Hinsicht?

Maier: Sie waren nicht erfreut darüber, dass wir koordinieren sollten. Diese Irritation war deutlich erkennbar.

STANDARD: Inwiefern?

Maier: Die Beamten sind für derartige Situationen nicht ausgebildet. Sie kommen von der Verwaltungsakademie oder sind Polizisten. Wenn man aber mit Flüchtlingen arbeitet, braucht man ein ganz anderes Verständnis. Es ist ja nicht jeder Neuankommende ein Krimineller. Natürlich waren es viele, und es war teilweise chaotisch. Aber die Gabe, das aufzulösen und trotz der großen Masse immer noch den einzelnen Menschen zu sehen – diese Gabe haben die Herren, die ich da kennengelernt habe, sicher nicht.

STANDARD: Sie schreiben, die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner habe teilweise überfordert gewirkt, Verteidigungsminister Klug habe parteipolitisch agiert. Hat die Regierung versagt?

Maier: Der Verteidigungsminister hat so gut wie nichts gemacht. Ich wusste von hohen Vertretern des Militärs, was möglich gewesen wäre, was aber der Minister nicht zugelassen hat. Dieser Mann hat eine inferiore Rolle gespielt.

Foto: robert newald

STANDARD: Welche Rolle spielte Mikl-Leitner?

Maier: Sie hat sich sehr bemüht. Aber sie wurde ziemlich alleingelassen. Früher gab es im Bundeskanzleramt eine eigene Stabsstelle für Not- und Katastrophenfälle, die koordiniert hat. In dem Fall lag die Verantwortung im Innenministerium, alle anderen hatten dadurch das Gefühl, das habe mit ihnen nichts zu tun. Daher sollte man daraus lernen und diese Stabsstelle im Bundeskanzleramt wiederbeleben.

STANDARD: Sie loben im Buch die Kommunalpolitiker, auch Wiens Bürgermeister Michael Häupl ...

Maier: ... und den Landeshauptmann von Vorarlberg ...

STANDARD: ... nicht alle in der ÖVP sehen Häupls Rolle damals als lobenswert an. Warum Sie?

Maier: Wie Häupl damals seinen Wahlkampf geführt hat, das hat mir gefallen. Er hat ja drei Wochen vor der Wahl die merkwürdigen Retrothemen, mit denen die Wiener SPÖ bis dahin wahlgekämpft hat, fallengelassen und positiv auf die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegung reagiert. Das war durchaus in Konfrontation zur FP, hat ihm aber auch Stimmen gebracht. Und Häupl hat das Glück, mit Peter Hacker einen ausgezeichneten Flüchtlingskoordinator zu haben. Wien war ja, solange die Menschen über Nickelsdorf kamen, stark gefordert und hat das bravourös gemeistert.

STANDARD: Es gibt immer wieder Kritik an den Deutschkursen: zu wenig Angebot, zu wenig transparent – was sagen Sie?

Maier: Dass die Bundesregierung den Ländern das Geld für Deutschkurse für Asylwerber gegeben hat, war eine gute Idee. Das funktioniert in der Regel auch gut. Bei den Asylberechtigten ist dagegen zentral der Integrationsfonds zuständig, das läuft nicht so toll. Das liegt auch an der IT-Organisation. Eine internationale Gesellschaft hat dem Innenministerium angeboten, eine IT für Asylwerber und -berechtigte aufzubauen, sodass man ab Antragstellung die Betroffe- nen hätte begleiten können. Landeshauptleute und Bundesregierung haben das im November 2014 sogar beschlossen. Wäre das umgesetzt worden, hätten wir viele Probleme nicht gehabt.

Foto: robert newald

STANDARD: Sie schreiben von der "widersinnigen, absurden Idee, Zäune zu errichten". Bleiben Sie dabei? Man kann ja, siehe Ungarn, auch sagen: Es hilft, Leute abzuhalten.

Maier: Das sind Schnellschüsse, die auf Dauer nichts bringen. Und die Umsetzung in Österreich war noch da-zu lückenhaft. Hilfe vor Ort wäre dagegen sinnvoll. Wie oft sind etwa Europas Finanzminister zusammengekommen, um über die Griechenlandhilfe zu beraten, und insgesamt 284 Milliarden Euro an Krediten und Haftungen wurden beschlossen. Die Uno dagegen bekam von der EU 7,7 Milliarden Euro jährlich für die Afrikahilfe zugesprochen, aber nur ein Drittel wird tatsächlich ausbezahlt. Das verstehe ich nicht. Und auch nicht, warum es nicht mehr politische Aktivitäten in diese Richtung gibt.

STANDARD: ÖVP-Chef Außenminister Sebastian Kurz ist stolz darauf, die Balkanroute geschlossen zu haben. Aus Ihrer Sicht zu Recht?

Maier: Ein Beamter des Innenministeriums hat kürzlich gemeint, die Balkanroute sei rhetorisch geschlossen worden. Fest steht, dass das Schlepperunwesen dadurch gefördert wurde. Durchlässig ist die Route noch immer. Zehn Tage nach Schließung dieser Route im März 2016 trat die Türkei-Vereinbarung in Kraft. Das war das Glück und viel effizienter, denn ohne diesen Pakt zwischen Merkel, EU und Erdogan hätte es auf der Balkanroute ein noch größeres humanitäres Problem gegeben.

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle von Angela Merkel?

Maier: Sie hat vorbildlich agiert. Am 5. September 2015, als die ersten Tausende Flüchtlinge in Nickelsdorf standen, gab es in Berlin eine Sitzung, bei der Merkel ihre Experten fragte, ob es rechtlich möglich sei, die Grenzen zu schließen. Die Auskunft lautete: nein, eigentlich nicht – und obendrein gäbe es unschöne Bilder. Man stelle sich vor, das wäre anders ausgegangen. Fast eine Million Menschen wären in Österreich geblieben – was hätten wir dann gemacht? Notabene gab es im Herbst 2011 einen Bericht des Heeresnachrichtenamts, dass es aufgrund der politischen Verschiebungen in Nordafrika zu Wanderbewegungen kommen wird. Jetzt so zu tun, als wäre das Merkels Schuld, ist absurd.

STANDARD: Das Flüchtlingslager Traiskirchen kommt in Ihrem Buch nicht gut weg. Funktioniert es nicht?

Maier: Es ist ja nicht für 5000 Menschen ausgerichtet, das war eine besondere Situation. Aber man muss in einer solchen Situation auch flexibel agieren können. Wir haben etwa versucht, den sanitären Mangel zu beheben, es gab viel zu wenige Toiletten. Da waren die Beamten schon irritiert.

STANDARD: Warum?

Maier: Ich glaube, die Antwort heißt Angst. Das habe ich bei vielen Gelegenheiten bemerkt. Die Angst vor Amtshaftung oder Amtsmissbrauch oder Untreue, das kommt vielen in die Quere.

STANDARD: Die Angst, haftbar gemacht zu werden, weil man anordnet, Mobilklos aufzustellen?

Maier: Da kann sein, dass einer sagt, das können wir nicht machen, weil wir das europaweit ausschreiben müssen. Da müssen Sie erst einmal ruhig bleiben. Es liegt auch vielfach daran, wie das Backup durch den eige-nen Minister ist. Die verstorbene Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser hat ihren Beamten in dieser Phase alle Freiheiten gegeben. Das war sehr hilfreich.

STANDARD: Sie kritisieren, die Politik entwickle immer neue, verschärfte Sicherheitsstrategien, statt das Positive an Neuankömmlingen zu sehen. Was ist das Positive?

Maier: Es gibt viele positive Beispiele. Die werden aber nicht oder kaum berichtet, sondern nur die Negativbeispiele. Da vermisse ich Ausgewogenheit. Man schafft hier bewusst Verunsicherung. In dem Zusammenhang verstehe ich auch den Innenminister nicht.

STANDARD: Inwiefern?

Maier: Er hat im Zusammenhang mit den Obergrenzen von Staatsnotstand gesprochen. Damit hat er der Bevölkerung signalisiert: Es ist ganz arg. Niemand hat mir bisher erklären können, was passieren soll, wenn die Obergrenze überschritten wird. Das führt zu Angstgefühlen und Empfänglichkeit für radikale Töne.

STANDARD: Christian Konrad und Sie wären bereit gewesen, als Flüchtlingsbeauftragte weiterzumachen. Woran ist das gescheitert?

Maier: Wir wollten eine Allianz für Integration und Internationalität gründen. Unsere Vorbilder waren Deutschland und Schweden, plus die Erfahrungen, die wir selbst gesammelt haben: mit tollen Bürgermeistern, NGOs, Wirtschaftstreibenden, die alle geholfen haben und noch mehr tun wollten. Eingebunden hätten wir Städte- und Gemeindebund, die Wirtschaft, Vertreter der Rektorenkonferenz, Fachhochschulen, AMS, Sportvereine, Vertreter der Schulen. Wir wollten runde Tische auf Bundes-, Länder- und Bezirksebene bilden. Es sollte eine Art Management aufgebaut werden, um vor Ort zu helfen. Es gab vonseiten der Bundespolitik zwar positive Signale dazu, aber am Ende war das nicht gewünscht. Ich weiß nicht, warum.

STANDARD: Welche Meinung hatte Integrationsminister Kurz?

Maier: Er war Mitglied der Taskforce, aber selten anwesend.

STANDARD: Einer Ihrer Hauptkonfliktpunkte mit Innenminister Sobotka war das Thema gemeinnützige Arbeit. Was lief da falsch?

Maier: Manche ÖVP-Minister kommen mir vor wie SPÖ-Minister, die glauben, sie können alles gesetzlich regeln. Ich hätte die Frage der Gemeinnützigkeit den Ländern und den Bürgermeistern überlassen. Da muss sich ja der Bund nicht einmischen.

STANDARD: Hat sich die ÖVP aus Ihrer Sicht verändert?

Maier: Wenn die ÖVP eine christlich-soziale Partei sein soll, dann definiert sie das neuerdings anders als früher.

STANDARD: Das liegt woran?

Maier: Politik liegt immer an denen, die sie machen.

STANDARD: Als Resümee schreiben Sie, aus der Willkommens- sei eine Abschiebekultur geworden. Sehen Sie das so bitter?

Maier: Ich stelle nur fest, die politischen Akteure haben sich gedreht. Es gibt einen europaweiten Wettbewerb, wer restriktiver ist. Das ist gespenstisch.

(Petra Stuiber, 15.6.2017)