Proteste gibt es vor jeder Abschiebung nach Afghanistan. In Deutschland wurden die umstrittenen Transporte nach einem Anschlag im Mai bis Ende Juli ausgesetzt, in Österreich nicht.

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Wien/Straßburg – Als am Mittwoch, dem 31. Mai 2017, unweit der deutschen Botschaft in Kabul eine Autobombe explodierte und 160 Menschen in den Tod riss, war der Frontex-Abschiebeflieger aus Stockholm und Wien gerade am Airport der afghanischen Hauptstadt gelandet. Ein zufälliges zeitliches Aufeinandertreffen, doch die Sachlage zeigt die menschenrechtliche Problematik von derlei Zwangstransporten aus Europa.

Ist es im Lichte der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) akzeptabel, Personen in ein Land rückzuführen, in dem terroristische Gewalt starke Ausmaße angenommen hat? Sind angesichts dessen Lebensgefahr laut Artikel zwei oder Risiken "unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung" laut Artikel drei der EMRK für künftig Abzuschiebende neu zu beurteilen?

Keine verbindlichen Antworten

Oder sollten Afghanistan-Abschiebungen großteils überhaupt ausgesetzt werden, wie es die deutsche Regierung zur Neubewertung der Sicherheitslage bis Ende Juli dekretiert hat – es aber in Österreich von den politisch Verantwortlichen ausgeschlossen wird? Fragen, auf die es aktuell keine verbindlichen Antworten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gibt.

Laut dem Verfassungsrechtsexperten Bernd-Christian Funk weist das auf ein generelles Verzögerungsproblem hin. Die Menschenrechtsgerichtsbarkeit arbeite langsam, die Sicherheitslage, etwa in Afghanistan, sei volatil.

Versuche, Abschiebungen in das Land am Hindukusch höchstgerichtlich abzuwenden, gibt es, seit die unfreiwilligen Rücktransporte rechtskräftig negativ beschiedener Afghanen aus Österreich dorthin laufen: Seit Inkrafttreten des EU-Afghanistan-Abkommens im Oktober 2016. Konkret versuchten Rechtsvertreter Betroffener, beim EGMR in Straßburg eine Interim Measure (einstweilige Anordnung) gegen den Abtransport zu erwirken.

Stopp binnen Stunden

Eine Interim Measure wird binnen Stunden erteilt. Sie setzt voraus, dass der Rechtsweg im jeweiligen Europaratsstaat ausgeschöpft ist – sowie, dass Zweifel bestehen, ob die Abschiebung mit Artikel zwei oder Artikel drei EMRK konformgeht.

Seit Inkrafttreten des EU-Afghanistandeals hat der EGMR keine solchen Anordnungen erteilt. "Ich gehe aber davon aus, dass es zeitnah dazu kommen wird", sagt Manfred Nowak, Menschenrechtsexperte am Ludwig-Boltzmann-Institut der Universität Wien.

Einer Interim Measure folgt eine Verhandlung des Einzelfalles vor einer der Kammern des Straßburger Menschenrechtsgerichts. Endet diese mit einer Verurteilung des abschiebewilligen Staates, so gilt der Stopp in allen vergleichbaren Fällen im gesamten Europaratsraum.

Auf diese Art unterband der EGMR etwa im Oktober 2015 Abschiebungen aus Russland nach Syrien. Da zu diesem Zeitpunkt bereits kein anderes Europaratsland mehr in das kriegsgeschüttelte Land abschob, hatte der Spruch keine durchgreifenden Folgen. Auch der Dublin-Rückschiebestopp aus dem Schengenraum nach Griechenland kam im Jänner 2011 durch ein Urteil gegen Belgien zustande.

In Syrien herrsche für Abgeschobene Lebensgefahr laut EMRK Artikel zwei, befanden die Straßburger Richter im Russlandfall. Ein Risiko für "Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" laut Artikel drei wiederum sahen sie in beiden Fällen – also in Syrien wie Griechenland: eine Folge des Umstands, dass sich der Anwendungsbereich von Artikel drei historisch sehr verbreitert hat.

US-Todesstrafenfall

So sei Artikel drei EMRK ursprünglich gar nicht auf Abschiebefälle anwendbar gewesen, erläutert Nowak. Der mit dieser Interpretation verbundene Begriff des Non-Refoulement (Verbot, Menschen in Verfolgerstaaten zurückzubringen) sei erstmals 1989 mit angewendet worden: beim Fall Soering versus United Kingdom, als der EGMR die Auslieferung eines in den USA zum Tode Verurteilten untersagte.

Inzwischen deckt Artikel drei Bedrohungen der körperlichen Sicherheit und Foltergefahr ebenso ab wie das Risiko menschenunwürdiger Lebensbedingungen infolge von systematischem Versagen des Asylsystems à la Griechenland. Auf den Ausgang eines EGMR-Verfahrens zu Afghanistan-Abschiebungen könne man also gespannt sein, sagt Nowak. Er selbst plädiert für einen Stopp. (Irene Brickner, 15.6.2017)