Günther Linemayr ist Facharzt für Hämatologie und Onkologie und ehemaliger Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychoonkologie sowie Lehrgangsleiter des Österreichischen Lehrgangs in Psychoonkologie. Er beschäftigt sich intensiv mit gesundheitsfördernden psychosozialen Faktoren bei Krebs.

Foto: privat

Geht es um die Therapie von Krebs, können Patienten auch selbst viel tun.

Foto: imago/All Canada Photos

STANDARD: In der Medizin geht es vornehmlich um die Pathogenese. Was genau ist Salutogenese?

Linemayr: Salutogenese meint die der Gesundheit förderliche Faktoren, aber nicht im Sinn einer medizinischen Behandlung. Pathogenese stellt die Frage: Wie werden wir krank? Salutogenese beschäftigt sich mit der Frage: Wie werden wir gesund? Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dafür ein größeres Bewusstsein in der Medizin, mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften ist das weggefallen und hatte praktisch keine Bedeutung mehr.

STANDARD: Woher stammt der Begriff Salutogenese?

Linemayr: Der Begriff selbst ist relativ jung und wurde von dem Soziologen Aaron Antonovsky geprägt, der sich in den 1970er-Jahren mit KZ-Überlebenden beschäftigt hatte. Das Ergebnis seiner Studien war, dass nicht nur Glück und Zufall über das Überleben entscheiden, sondern auch persönliche Faktoren.

STANDARD: Was heißt das für die Krebserkrankung, und welche psychosozialen Faktoren sind dabei ausschlaggebend?

Linemayr: Die Coping-Forschung beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen mit schwierigen Lebensereignissen oder Erkrankungen umgehen. Das hat erstens Auswirkungen auf ihre Lebensqualität und zweitens auf ihre Lebenserwartung. Bei guten Coping-Strategien kann man salopp gesagt auch von Selbstheilungskräften sprechen.

STANDARD: Selbstheilungskräfte bei Stress, Geldsorgen oder Beziehungsproblemen?

Linemayr: Die Medizin kann nicht alles richten, aber wir wissen, dass bestimmte Eigenschaften nützlich sind. Erstens die Akzeptanz: Das ist so, und ich mache das Beste daraus. Zweitens Kontrollüberzeugung: Das meint die Überzeugung, wie es mit meiner Erkrankung weitergeht, liegt auch an mir, ich habe es in der Hand. Und drittens die soziale Unterstützung, Menschen, die für mich da sind. Nachteilig sind Depressionen und das Einnehmen einer Opferrolle, also zum Beispiel die Frage: warum ich? Hilflosigkeit, Fixierung auf die Krankheit und das Leiden. Auch sozialer Rückzug wirkt sich schlecht aus.

STANDARD: Sie beschäftigen sich im Speziellen mit der Salutogenese bei Krebserkrankungen?

Linemayr: Ja, seit 2013 gibt es den Arbeitskreis Salutogenese bei Krebs, am 20. Juni gibt es dazu in Hamburg einen Kongress.

STANDARD: Was ist die Rolle der Patienten bei Krebserkrankungen? Was kann er oder sie selber tun?

Linemayr: Eine ganze Menge. Zum Beispiel versuchen, aktiv an der Behandlung teilzunehmen. Das wird in unseren Institutionen oft erschwert. Ein "Tumorboard" entscheidet über die Therapie. Das ist wie eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes. Dabei gibt es bei allen Leitlinien einen vernünftigen Spielraum, Betroffene einzubeziehen.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel bringen?

Linemayr: Nehmen wir das Beispiel Brustkrebs: Nach einer Operation und Bestrahlung gibt es bei einer ganz bestimmten Tumorkonstellation statistisch einen Heilungserfolg durch Operation und Bestrahlung von 90 Prozent. Mit einer zusätzlichen Hormontherapie steigt dieser auf 95 Prozent, das heißt, von 100 behandelten Frauen haben fünf davon einen Benefit. Was aber, wenn eine Frau sagt: Meine Lebensqualität ist mir wichtiger, ich verzichte auf die Hormontherapie? Das sollte möglich sein. Oder aber man ist mit der Behandlung nicht zufrieden – dann wechsle ich das Spital.

STANDARD: Trauen sich die Patienten das zu?

Linemayr: Nicht alle wollen das, das muss man schon sagen. Aber es gibt auch andere Faktoren. Sport ist einer der stärksten und wichtigsten. Bei allen wichtigen Krebsarten sinkt die Sterblichkeit um 20 bis 30 Prozent, wenn die Patientin oder der Patient regelmäßig Sport betreibt. Es gibt bei uns noch häufig die alte Sichtweise: Du bist krank, du musst dich schonen. Dabei verbessert Bewegung nachweislich die Lebensqualität und die Lebenserwartung.

STANDARD: Sollte jeder Mensch, der krebskrank ist, eine begleitende Psychotherapie bekommen? Theoretisch gibt es die Möglichkeit in Österreich schon.

Linemayr: Nicht jeder Krebsbetroffene braucht eine Psychotherapie. Aber alle, denen es schlecht geht, sollten eine bekommen können. Das ist im Krankenanstaltengesetz auch so geregelt. Alle Onkologiezentren sind verpflichtet, Psychoonkologen anzustellen. Aber der Bedarf ist groß und wird regional unterschiedlich gut abgedeckt. Außerhalb der Institutionen ist es schwieriger. Es gibt viele niedergelassene Psychotherapeuten, aber nicht so viele, die sich mit Psychoonkologie befassen. Zudem haben wenige eine direkte Verrechnungsmöglichkeit mit den Kassen, bei den anderen bekommen die Patienten nur ein Drittel bis ein Viertel zurück, das muss man sich erst leisten können.

STANDARD: Wie stehen Sie zu komplementären Methoden?

Linemayr: Insgesamt sind viele komplementäre Methoden nicht so toll, wie oft von den Patienten erwartet wird. Aber allein die Tatsache, dass ich etwas tue, kann im Sinne der Salutogenese helfen. Ich stehe komplementären Methoden also offen, aber kritisch gegenüber. Mit Angst und Hoffnung ist leider viel Geschäft zu machen. Vieles, was da angeboten wird, ist unnötig teuer.

STANDARD: Welche Evidenz für die Wirksamkeit von Salutogenese gibt es?

Linemayr: Keine. Die Wirksamkeit müsste ja für die jeweils einzelne Maßnahme, also für die Kommunikation oder die Therapie, die Ängste und Depression abbaut, oder die bessere soziale Unterstützung überprüft werden. Salutogenese funktioniert aber als Kombination dieser Faktoren. Dafür ein Studiendesign zu erstellen ist sehr schwierig. Außerdem: Medizinische Studien werden bezahlt von der Pharmaindustrie. Das ist gut und schlecht. Gut, weil es sonst niemand zahlt, und schlecht, weil es kaum Geld gibt für Studien im Nichtpharmabereich.

STANDARD: Wie gehen Sie mit dieser Situation um?

Linemayr: Unser wissenschaftlicher Zugang ist, Fallgeschichten im großen Stil zu sammeln und auszuwerten. Zudem geht es darum, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für Salutogenese zu schaffen. Dazu dient auch unser Kongress "Salutogenese bei Krebs 2017". Er richtet sich an alle medizinischen Berufsgruppen, steht aber auch interessierten Laien, Betroffenen und ihren Angehörigen offen. (Tanja Paar, 15.6.2017)