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Siddhartha Mukherjee ist ein amerikanischer Arzt mit indischen Wurzeln. Er ist Forscher am Columbia University Center. Für sein Buch "Der König aller Krankheiten" wurde er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Mukherjee lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in New York.

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Siddhartha Mukherjee, "Das Gen. Eine sehr persönliche Geschichte". € 26,80 / 768 Seiten. S.-Fischer-Verlag 2017

STANDARD: Sie sind Onkologe. Warum haben Sie dieses für Laien verständliche und spannende Buch über Gene geschrieben?

Mukherjee: Wir leben in aufregenden Zeiten. Seit vielen Jahren arbeiten Wissenschafter daran, das Genom nicht nur lesen, sondern es auch interpretieren zu können. Wir sind aber an einem Punkt, an dem wir mit von uns entwickelten Technologien in den Bauplan des menschlichen Lebens eingreifen können. Das ist ein Wendepunkt. Es wird das gesamte Menschsein verändern.

STANDARD: Inwiefern?

Mukherjee: Es ist wie eine Maschine, die plötzlich selbstständig zu denken beginnt und, möglicherweise ohne dass man eingreifen kann, ihr Programm verändert.

STANDARD: Das klingt beängstigend.

Mukherjee: Es ist, als ob man die Evolution an den Hörnern packt und versucht, eine Bestie zu reiten. Wir wissen nicht, was passieren wird. Es gibt eine Unzahl ungeklärter Fragen, die das Leben jedes Einzelnen beeinflussen könnten. Was ist machbar, was ethisch vertretbar? Wer soll Grenzen setzen? Solche Entscheidungen sollten nicht von ein paar Eingeweihten getroffen werden. Jeder sollte mitreden können. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

STANDARD: Können Laien diese vielen Details im Genom überhaupt noch erfassen?

Mukherjee: Absolut. Das humane Genom ist – per definitionem – das Allermenschlichste, das wir haben. Wir sollten also die Storys hinter der Forschung kennen. Mit diesem Wissen lässt sich die Zukunft gestalten. Gerade in der Medizin gibt es viele Beispiele, um die neuen Möglichkeiten, aber auch die Gefahren zu veranschaulichen.

STANDARD: Warum ist es für jeden Einzelnen wichtig, wie Sie sagen?

Mukherjee: Weil es oft um Gesundheit und Krankheit geht. Ich selbst bin fasziniert von den Möglichkeiten, die sich eröffnen. Die Sichelzellenanämie wird die Erkrankung sein, bei der wir erstmals das Genom eines Patienten verändern werden. Das wird innerhalb der nächsten fünf Jahre passieren, die entsprechenden Vorbereitungen laufen. Menschen bekommen die Macht über die menschliche Natur. Meine Sorge ist, dass wir viele Aspekte noch nicht kennen.

STANDARD: Sie meinen die Enttäuschung, dass Krebs trotz aller genetischen Erkenntnisse in vielen Fällen unheilbar ist?

Mukherjee: Eine Krebserkrankung kann einen stark genetisch bedingten Anteil haben, das wissen wir. Wir haben eine ganze Reihe von Mutationen im Genom identifiziert, aber wir wissen nicht, wie, wann und ob sie schlagend werden. Wir waren sehr stark auf die Tumorzellen konzentriert, dachten, dass es da eine lineare Entwicklung gibt. Heute wissen wir, dass sehr viele Faktoren zusammenspielen, dass Krebs in Microenvironments im Körper entsteht. Und wir wissen auch, dass das menschliche Genom zumindest in gewissen Abschnitten von der Umwelt beeinflusst wird. Wenn wir das Genom in bestimmten Abschnitten manipulieren, betrifft das auch die Ei- und Samenzellen und damit die Fortpflanzung. Es ist sehr komplex. Auch die leistungsstärksten Computer können die Tragweite nicht erfassen und abbilden.

STANDARD: Was meinen Sie mit komplex?

Mukherjee: Würde man die DNA eines einzelnen Menschen ausdrucken, würde diese Information siebenmal die 32-bändige Encyclopædia Britannica füllen. Doch wenn man in der Folge die Genome untereinander vergleicht, würden sie sich wahrscheinlich nur in ein paar Hundert Seiten voneinander unterscheiden. Da gibt es einen Widerspruch, der schwer zu begreifen ist: Auf der einen Seite ist da diese enorme Vielfalt im menschlichen Genom, die ja auch physisch sichtbar ist, auf der anderen Seite aber genauso viele Ähnlichkeiten.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Mukherjee: Alle Menschen haben Nasen. Also gibt es im Genom sicherlich eine entsprechende Anweisung. Die Nase ist also eine Art Grundstruktur, ein Archetyp. Trotzdem sieht jede Nase im Gesicht anders aus. Diese Kombination aus Ähnlichkeit und Diversität ist die Herausforderung. Da stehen wir noch ganz am Anfang.

STANDARD: Was sind die größten Hürden?

Mukherjee: Das Genom ist in bestimmten Abschnitten keine fixe Größe, sondern immer ein Zusammenspiel aus Genen, Umwelt und Zufall. Jeder dieser drei Bereiche hat Einfluss. Selbst eine Krankheit wie die zystische Fibrose, von der wir die genetischen Komponenten kennen, entwickelt sich von Patient zu Patient unterschiedlich. Aus dem sequenzierten Genom können wir nichts über den individuellen Verlauf in der Zukunft ablesen. Die Aussagekraft der Information ist also beschränkt.

STANDARD: Alles bleibt vage, meinen Sie?

Mukherjee: Vage und konkret. Eine Patientin, Trägerin der BRCA1-Mutation, kam unlängst zu mir. Durch diese Mutation hat sie ein signifikant höheres Brustkrebsrisiko, das haben wir in den letzten Jahren herausgefunden. Ich kann ihr aber nicht sagen, ob sie, und wenn, in welchem Alter, erkranken wird. Ob ihr Tumor aggressiv ist oder einer, den die Medizin heute oder in Zukunft gut in den Griff bekommen kann. Sie wollte auch ihre Töchter genetisch testen lassen, aus einem Sicherheitsdenken heraus. Diese Mädchen sind neun und elf Jahre alt, haben also noch nicht einmal eine Brust. Was würde das genetische Wissen um diese Mutation für zwei heute gesunde Mädchen bedeuten? Was, wenn nur eine betroffen wäre? Solche Szenarien gilt es durchzuspielen. Es sollte jedem klar sein, was genetisches Wissen bedeutet.

STANDARD: Welche Rolle spielt Ihre eigene Geschichte?

Mukherjee: Sie war eine Motivation für dieses Buch. Seit drei Generationen gibt es in meiner Familie Schizophrenie, eine Erkrankung, an der eine ganze Reihe von Genen beteiligt ist.

STANDARD: Ist Ihr Genom sequenziert?

Mukherjee: Nein, weil ich nicht wüsste, was dieses Wissen für mich bzw. für meine Kinder bedeuten würde. Das, was bei so einem Test herauskommt, sind nur Wahrscheinlichkeiten, das Wissen darum hätte aber trotzdem enorme Auswirkungen.

STANDARD: Denken Sie, dass der Lebensstil einen Einfluss auf das Genom hat?

Mukherjee: Zweifellos. Allerdings hängt es stets von der Krankheit ab. Da sollte man grundsätzlich sehr präzise sein. Der menschliche Geist tendiert zur Generalisierung, aber genau diese Verallgemeinerungen gilt es in Zusammenhang mit dem Genom zu vermeiden.

STANDARD: Können Sie die Bandbreite dieser Problematik veranschaulichen?

Mukherjee: Wir wissen: Es gibt genetische Konstellationen, die ein Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen darstellen. Interessanterweise kann man dieses Risiko aber durch die Ernährung auf einen durchschnittlich geltenden Wert ausgleichen. Das Genom ist in bestimmten Abschnitten kein statisches Gebilde, sondern dynamisch und steht in Bezug zur Umwelt. Andere Erkrankungen wie etwa Chorea Huntington werden von genetischen Abschnitten bestimmt, die nur schwer beeinflussbar sind. Es ist ein breites Spektrum. Ein anderes Beispiel: Zweifellos lässt sich das Lungenkrebsrisiko durch Nichtrauchen senken. Allerdings gibt es viele Menschen auf der Welt, die nicht rauchen und trotzdem Lungenkrebs bekommen. Molekular betrachtet unterscheiden sich diese beiden Spielarten des Lungenkrebses kaum.

STANDARD: Ihre Schlussfolgerung?

Mukherjee: Menschen tendieren dazu, in Kategorien von Schwarz und Weiß zu denken. Im Zusammenhang mit dem Genom gibt es aber nur unendlich viele Grautöne. Wenn wir beginnen, in den Bauplan des menschlichen Lebens einzugreifen, werden wir viel Unerwartetes erleben, davon bin ich überzeugt. (Karin Pollack, 17.6. 2017)