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Self-care ist eine Möglichkeit, Unterdrückungserfahrungen selbst etwas entgegenzusetzen – wenn sie nicht zur Selbstoptimierung gerät.

Foto: reuters

Schokoladenkekse, flauschige Socken und heiße Suppe – die Redaktion des US-amerikanischen "Bitch"-Magazins meinte es gut mit ihren LeserInnen. Mit "Election Self-Care" betitelten die Autorinnen ihre Tipps, die dabei helfen sollten, die Präsidentschaftswahlnacht vom vergangenen November stressfrei zu überstehen. Der überraschende Sieg Trumps, den viele US-AmerikanerInnen – allen voran Feministinnen – als Schock erlebten, löste auch abseits feministischer Medien eine Flut an Self-care-Listen aus.

Lange Spaziergänge, Atemübungen und Handyverbot im Bett, um der Versuchung zu widerstehen, sich vor dem Einschlafen noch einmal den Twitter-Tiraden des neuen Präsidenten zu widmen. Sogar in den Google-Trends ließ sich ein gesteigerter Wunsch nach Selbstfürsorge ablesen, wie die "New York Times" online berichtete: Nach der Wahl erreichte die Suche nach dem Begriff "self-care" ein Fünfjahreshoch.

Fotos von Schaumbädern

Die Entwicklung zur Selbstfürsorge beschränkt sich indes längst nicht mehr auf Zeiten politischer Verstimmung. Am #SelfCareSunday teilen NutzerInnen auf Instagram wöchentlich inspirierende Zitate ("Ich lerne noch immer, mich selbst zu lieben") und Fotos von Schaumbädern oder kosmetischen Behandlungen – die nicht selten mit Werbebotschaften gespickt sind. Wirtschaftstreibende haben die Selbstfürsorge als Marketing-Tool entdeckt und setzen in sozialen Netzwerken auf sogenannte Influencer, die anderen ihren Lebensstil schmackhaft machen sollen. Wer auf sich Acht gibt, investiert in schicke Yogabekleidung oder den örtlichen Massagesalon, Self-care wird somit auch zur Klassenfrage.

Widerständige Fürsorge

In feministischen Bewegungen hat die Selbstfürsorge eine lange politische Geschichte. "Self-care war schon immer ein feministisches Thema, allein angesichts der vergeschlechtlichten Natur der Sorgearbeit", sagt Kim Tran. Die US-amerikanische Autorin arbeitet an ihrer Dissertation an der University of California, Berkeley, und setzt sich mit verschiedenen Unterdrückungsmechanismen auseinander. Sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, werde nach wie vor Frauen zugeschrieben – die diese Aufgabe sowohl im Dienstleistungssektor als auch im Privatleben mehrheitlich übernehmen. "Women of color, die dann auch noch mit Rassismus konfrontiert sind, benötigen sehr viel Energie für ihre täglichen Kämpfe", sagt Tran. Self-care sei eine Möglichkeit, den Unterdrückungserfahrungen selbst etwas entgegenzusetzen, ist die Wissenschafterin überzeugt.

Die Vorstellung von Selbstfürsorge als radikaler Praxis prägten AktivistInnen wie Audre Lorde. Die schwarze lesbische Autorin und Bürgerrechtskämpferin schrieb im 1988 veröffentlichten Essayband "A Burst of Light", in dem sie auch ihre Krebserkrankung dokumentierte: "Selbstfürsorge ist kein Luxus, es ist Selbsterhaltung, und die ist ein Mittel politischer Kriegsführung." Das nach wie vor einflussreiche Zitat der 1992 verstorbenen Autorin verweist auf die Kämpfe marginalisierter Gruppen: Schwarze, Lesben, Schwule, Transpersonen oder Menschen mit Behinderung widersetzen sich der fehlenden Akzeptanz durch die Gesellschaft nicht nur durch politische Zusammenschlüsse, sondern auch durch radikale Selbstliebe.

Projekt "Ich"

In der Self-care-Welt auf Instagram ist freilich wenig von diesem Verständnis zu finden. "In unserer neoliberalen Gesellschaft wird der Begriff oft umgedeutet in Richtung Selbstoptimierung", sagt Psychotherapeutin Karin Macke, die in einer Frauenberatungsstelle tätig ist. Der Leitsatz "Wer sich anstrengt, kann alles erreichen und glücklich werden" führe häufig zum Gefühl des persönlichen Versagens und münde letztendlich im Einzelkämpfertum. "Diese Vereinzelung bewirkt eine Entpolitisierung, sie verhindert ein gemeinsames Kämpfen für bessere, lebenswerte Bedingungen", sagt Macke.

Selbstfürsorge als positives Konzept assoziiert die Psychotherapeutin im Gegensatz dazu mit Autonomie; mit der Möglichkeit, eigene Bedürfnisse und Wünsche wahr- und ernst zu nehmen. Schließlich würden insbesondere Frauen dahingehend sozialisiert, es anderen Menschen immer recht zu machen und für andere zu sorgen – ohne dabei auf sich selbst zu achten.

Sich zur Wehr setzen

Die Schweizer Philosophin und Historikerin Tove Soiland führt die Kritik an der Selbstfürsorge noch weiter: Im Diskurs um die Selbstfürsorge sei die gesellschaftspolitische Dimension verlorengegangen, lautet ihre Diagnose. "Wenn ich beispielsweise prekär angestellt bin und für Kinder und Angehörige sorgen muss oder will, was heißt dann Self-care? Von irgendwoher müssen Ressourcen, Zeit und Geld kommen, damit ich das alles bewältigen kann", sagt Soiland.

Feministische Kämpfe könnten sich niemals daran orientieren, sich im Bestehenden zurechtzufinden, es gehe darum, sich zusammenzuschließen und sich auf gesellschaftlicher Ebene zur Wehr zu setzen. Die Aufforderung an Frauen, auf sich selbst zu achten, das eigene Wohlergehen in den Mittelpunkt zu rücken, interpretiert die Philosophin als "zynischen Imperativ": "Ich soll das Unmögliche leisten, indem ich die Sorgearbeit übernehme, und dazu bin ich noch verpflichtet, für mich selbst zu sorgen." Dies sei letztlich eine Umkehrung der feministischen Forderung, Sorgearbeit zu einem gesellschaftlichen Thema zu machen – eine Zumutung statt eines Befreiungsangebots.

Religiöse Züge

Die im Netz und in der Ratgeberliteratur zelebrierte Sorge um das Selbst bietet indes zumindest rhetorisch das Versprechen, nicht nur das eigene Wohlbefinden zu steigern, sie verheißt auch Gesundheit, Erfolg und Glückseligkeit. Ein gut strukturierter Terminkalender, Yoga und Grünkohl-Smoothies sollen dazu dienen, das eigene Leben jeden Tag ein Stück besser zu machen. Die ausdifferenzierten Regeln des gegenwärtigen Wellnesskults seien als Glaubenspraxis zu begreifen, schreibt die britische Feministin Laurie Penny in einem Essay auf "The Baffler": Wer dieses und jenes befolgt, wird gerettet.

Die Vorstellung, alles selbst in die Hand nehmen zu können, kritisiert auch Karin Macke scharf: "Es wird uns vorgegaukelt, dass wir alles beeinflussen und kontrollieren könnten und Fehler, Krisen, Krankheiten und Verluste nicht nur vermeidbar wären, sondern vor allem auf persönliches Versagen zurückzuführen sind." Auch wenn sich Self-care-Tipps in feministischen Medien vor diesem Hintergrund als Appell an die vielbeschworene Selbstverantwortung lesen lassen, zielten Aktivistinnen wie Audre Lorde immer auch auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse im Sinne gerechterer Lebensbedingungen.

Atempause statt Atemübung

Self-care allein als Individualisierung sozialer Probleme zu definieren, versteht Kim Tran als zu kurz gedacht. "Natürlich müssen wir für eine gerechtere Gesellschaft mit Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung für alle kämpfen, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass Menschen, die von sexueller Belästigung oder Polizeigewalt betroffen sind, eine Atempause von diesen Zumutungen haben", sagt die Wissenschafterin. Eine allgemeine Gesundheitsversorgung ist den USA nach wie vor Utopie, ein Kampf, den die Wahl Donald Trumps nicht vereinfacht hat. Self-care sei dementsprechend auch eine Erinnerung daran, wofür man eigentlich kämpfe, sagt Tran. Schokokekse und warme Socken werden dafür kaum reichen. (Brigitte Theißl, 18.6.2017)