Die Kinder konnten nicht wissen, was sie auslösen würden, als sie am 15. Februar 2011 "Du bist dran, Doktor!" an die Fassade ihres Schulhauses in Deraa in Südsyrien sprühten. Welche brutalen Konsequenzen dieser simple Slogan haben würde, den sie, inspiriert von den Demonstranten in Tunesien und Ägypten, an den syrischen Machthaber und studierten Arzt Bashar al-Assad richteten.

Dass sie dafür von der Polizei festgenommen und gefoltert werden würden. Dass Menschen in ganz Syrien auf die Straße gehen würden, um zunächst Freiheit für die Kinder und schon bald Freiheit für das ganze Land zu fordern. Die Menschen skandierten damals noch friedlich "Gott, Syrien und Freiheit", später dann "Nieder mit Assad!" Das Regime antwortete mit Repression und Gewalt. Am 17. März 2011 wurden in Deraa bei einer Demonstration fünf Menschen von Soldaten erschossen: Es war der Auftakt eines blutigen Krieges. Fast eine halbe Million Menschen hat dieser Krieg inzwischen das Leben gekostet, fünf Millionen sind ins Ausland geflohen, 13,5 Millionen sind laut UN auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Krieg befindet sich mittlerweile im siebenten Jahr.

Komplexität immer schwerer zu fassen

Längst kämpfen neben dem Assad-Regime, den aufständischen Rebellen und einigen radikalen islamistischen Gruppierungen auch ausländische Mächte in Syrien. Längst ist aus dem Bürgerkrieg ein Konflikt internationalen Ausmaßes geworden, dessen Komplexität und unterschiedliche Interessenlagen für außenstehende Beobachter immer schwerer zu fassen sind.

Für die Menschen, die noch immer in Syrien leben, zählt allein das tägliche Überleben inmitten von Gewalt, Chaos und Anarchie. Sie erzählen hier aus unterschiedlichen Perspektiven aus ihrem Alltag, schildern ihre persönliche Sicht auf den Konflikt und zeigen Fotos aus ihren Heimatstädten. Es sind persönliche Geschichten von Angst, Bomben und dem Versuch, trotzdem ein geregeltes Leben zu führen. (Bartholomäus von Laffert und Ahmad Aldali, 17.6.2017)

Recherche: Die Protagonisten, deren Protokolle publiziert werden, wurden zum einen durch Geflüchtete in Deutschland und Österreich und private Kontakte in Syrien vermittelt, zum anderen durch die Aktivistengruppen Adopt a Revolution und Women's Struggle in North Syria sowie das syrische Newsportal "sound-and-picture.com".

Auf Bitte der Protagonisten haben die Autoren entschieden, keine Fotos ihrer Gesprächspartner zu veröffentlichen, da fast alle im Falle einer Identifizierung die Verfolgung durch die jeweiligen Machthaber fürchten. Stattdessen wurden die Befragten gebeten, Fotos aus ihren Heimatorten zu schicken.

Abu Kamal hatte im Jahr 2003 rund 52.000 Einwohner. Es ist die letzte Stadt am Ufer des Euphrat im Osten Syriens. Sieben Kilometer entfernt liegt die Grenze zum Irak.

Der erste Glücksmoment
Omar (36) aus Abu Kamal, Kontrolle: IS

Ich bin vergangenen Monat Vater geworden, meine Frau hat mir einen Sohn geboren. Das war das erste Mal, dass ich glücklich war, seit Daesch (IS) im Juli 2014 in Abu Kamal eingefallen ist. Ich hatte nicht gedacht, dass ich in diesem Elend noch einmal so etwas wie Freude verspüren kann. Ich bin Gemüsehändler, jeden Morgen stehe ich um halb sechs auf, um auf die Bauernhöfe zu fahren und die Ware abzuholen. Früher ging das immer recht mühelos, weil wir nur über die Brücke fahren mussten, doch die Koalition hat die Brücke im Februar zerbombt, deshalb müssen wir jetzt Boote benutzen. Außerdem habe ich immer Angst, dass sich der IS für die Bomben der Koalition an den Zivilisten rächt.

Eigentlich war ich unabhängiger Anwalt, doch sie haben mich gefeuert und mir ein Arbeitsverbot erteilt, als sie anfingen, "Scharia-Gerichte" und "IS-Untersuchungskommissionen" zu etablieren. Jetzt habe ich nur noch diesen einen Wunsch zu fliehen. Aber es kostet 4000 Euro, um einen IS-Kämpfer zu bestechen, dass er uns hier rausbringt. So viel kann ich im Leben nicht verdienen: Vor kurzem haben mich zwei IS-Kontrolleure aufgesucht und behauptet, ich verkaufe mein Gemüse zu überteuerten Preisen. Ich habe dann geantwortet, dass die Preise steigen, liege einzig daran, dass die Steuern immer weiter angehoben werden. Daraufhin haben sie mich verprügelt.

Auf dem Bild, das ich schicke, kann man den Euphrat sehen. Ich liebe ihn, er ist meine Heimat. Am Abend komme ich oft hierher, setze mich ans Ufer und weine, wenn ich daran denke, was aus meiner Heimat geworden ist.

Foto: Omar

Deir ez-Zor hatte im Jahr 2010 rund 294.000 Einwohner. Damit ist es die sechstgrößte Stadt Syriens. Mitte der 1990er-Jahre wurde Deir ez-Zor ein Zentrum der syrischen Erdölförderung.

Kampf für die Demokratie
Tim (29) aus Deir ez-Zor, Kontrolle: IS

Ich arbeite als Bürgerjournalist für das Newsportal sound-and-picture.com. Niemand hier weiß das, nicht einmal meine Familie. Mein Tagesablauf sieht so aus: Ich stehe um acht Uhr morgens auf, gehe auf die Straße und informiere mich über aktuelle Neuigkeiten: Hat der "Islamische Staat" ein neues Gesetz erlassen? Wie entwickeln sich die Preise der Grundnahrungsmittel? Dann sammle ich die neuesten Berichte von den Militäreinheiten: von den Regime-Truppen, von den kurdischen Einheiten, von den internationalen Kräften, vom IS. Ich versuche dann, Fotos und Videos zu machen, die ich meinen Kollegen außerhalb Syriens schicke, die das Material veröffentlichen.

Noch größer als die Angst, von einer Bombe zerfetzt zu werden, ist deshalb die Angst, dass der IS mich findet. Sie hassen, was wir Aktivisten tun und würden mich sicher töten. In dem Fall hätte ich nur mehr den Wunsch, dass sie mir einen Kopfschuss verpassen. Nicht dass sie mich mit ihren Messern wie Vieh schlachten und das Video meiner Familie schicken.

Ich hätte die Möglichkeit zu fliehen, aber ich werde bleiben. Die einen bleiben, um weiter für die Revolution zu kämpfen, ich bleibe, um die Verbrechen, die Assad und der IS begehen, zu dokumentieren und der Welt zu zeigen. Die Revolution, die wir begonnen haben, müssen wir zu Ende bringen. Es ist kein Kampf gegen Assad: Es ist ein Kampf für Demokratie und für Gerechtigkeit.

Foto: Tim

2004 hatte Deraa rund 98.000 Einwohner. Im März 2011 nahm in der Stadt der syrische Bürgerkrieg seinen Anfang.

Verschmutztes Wasser einer Geisterstadt
Sara (42) aus Deraa, Kontrolle: Freie Syrische Armee / Syrische Regierungstruppen

Ich wollte gerade mein Handy aufladen gehen, da ist in meinem Häuserblock eine Bombe eingeschlagen. Mein Kollege wurde verletzt und liegt jetzt im Krankenhaus. Die Russen bombardieren wie verrückt, es gibt hier keinen einzigen Ort mehr, wo man sicher ist. Deraa ist inzwischen eine Geisterstadt, mehr als 90 Prozent der Menschen aus meiner Nachbarschaft sind geflohen. Meine Familie lebt jetzt in einem Dorf nahe der jordanischen Grenze, ich hoffe, da sind sie sicher.

Ich bin Reporterin, also bin ich geblieben, um die Kriegsverbrechen des Regimes und der Russen zu dokumentieren. Dass die Angriffe von den Russen kommen, erkenne ich an den Flugzeugen, der Flughöhe und den Bomben, die sie abwerfen. Als sie angefangen haben mit der Vernichtung von Deraa, haben sie das Waffenlager der Freien Syrischen Armee, das Wasserreservoir und das zentrale Krankenhaus bombardiert.

Wir können hier niemanden mehr retten: Wer verschüttet wird, stirbt. Wer verwundet wird, stirbt. Wer krank wird, stirbt. Da es kein Wasser mehr gibt, müssen wir es aus Brunnen pumpen. Das wiederum ist verschmutzt und vergiftet, weil es sich mit dem Klärwasser mischt. Die Straßen um Deraa sind blockiert oder zerstört, Medikamente gibt es keine. Auch die Stromversorgung ist inzwischen komplett zusammengebrochen. Wir benutzen Generatoren, aber die sind so laut, dass sie das Brummen der Flugzeuge übertönen.

Normalerweise gebe ich hier in einem Bürgerzentrum Workshops für Frauen: Kurse für Erste Hilfe und Gesundheit. Außerdem gibt es Kurse für Kinder, wo wir ihnen zeigen, wie sie sich richtig verhalten müssen, wenn sie Flugzeuge am Himmel sehen.

Ich erwarte nichts von der Zukunft. Ich bete dafür, dass der Krieg zu Ende sein wird und Assad und seine Helfer vor einem Kriegsverbrechertribunal für ihre Taten verurteilt werden. Dass die Gefangenen freikommen. Dass wir einmal in einem Land leben können, in dem alle Menschen fair und gleich behandelt werden.

Foto: Sara

Atareb hatte 2004 rund 10.600 Einwohner. Die Stadt liegt rund 25 Kilometer westlich von Aleppo nahe der türkischen Grenze.

Widerstand unter ziviler Verwaltung
Mohammad (26) aus Atareb, Kontrolle: Freie Syrische Armee / Ahrar al-Sham

Bis vor wenigen Wochen haben wir demonstriert. Jeden Freitag. Gegen al-Nusra und zuletzt gegen Tahrir al-Sham. Das ist eine andere islamistische Miliz. Sie haben versucht, die Brotfabrik zu besetzen, aber wir haben sie vertrieben.

Wir werden alles dafür tun, unsere erlangte Freiheit zu verteidigen und unsere Zivilgesellschaft zu schützen, die wir in den letzten Jahren in Atareb aufgebaut haben. Wir haben es mithilfe der Freien Syrischen Armee geschafft, dass sich das Regime im September 2012 zurückgezogen hat. 2013 haben wir den IS aus der Stadt vertrieben. Und 2015 haben wir es mit friedlichem Protest und mit zivilem Ungehorsam geschafft, dass die Al-Nusra-Front die Stadt verlässt. Und jetzt eben Tahrir al-Sham. Wir werden so lange weitermachen, bis die Revolution ihre Ziele erreicht hat: Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle Menschen in ganz Syrien.

Atareb ist eine Kleinstadt und das Gebiet ist unter lokaler Verwaltung der Zivilgesellschaft. Vor einem halben Jahr haben die Bürger hier Delegierte gewählt, die einen Rat bestimmt haben, der die Stadt verwaltet. Für Sicherheit sorgt die freie Polizei. Ich bin Aktivist und habe das zivile Zentrum mitgegründet. Wir machen Jugendarbeit und versuchen, die Talente zu fördern, die Teenager trotz Krieg zu einer pazifistischen Grundhaltung zu erziehen. Wir haben Flyer gedruckt und sie an Schulen und Moscheen gehängt: "Mein Bruder, du Krieger, nimm den Kindern nicht das Lachen, indem du deine Waffe in die Schule mitbringst!"

Im Moment ist es ruhig in Atareb, aber wir müssen immer auf das Schlimmste gefasst sein. Als das Regime im Dezember Aleppo eingenommen hat, haben wir einen Großteil der Flächenbombardierung abbekommen. Märkte, medizinische Zentren, Hauptverkehrsadern wurden bombardiert. Eigentlich würde man sagen: Es kann nur besser werden – aber wir sind in Syrien.

Foto: Mohammad

Aleppo hatte 2004 rund 2,1 Millionen Einwohner und ist die größte Stadt Syriens. Durch die Kämpfe wurde die Stadt geteilt.

Die Hoffnung auf Bashar al-Assad
Mustafa (24) aus West-Aleppo, Kontrolle: Syrische Regierungstruppen

Aleppo ist wieder sicher! Als die syrische Armee im Dezember Ost-Aleppo von den Aufständischen befreit hat, sind wir auf die Straße gegangen und haben gefeiert und geweint. Ich studiere Chemie, und immer wieder haben die Bewaffneten aus Ost-Aleppo die Uni angegriffen. An manchen Tagen sind Bomben wie Regen vom Himmel gefallen, einige meiner Kommilitonen sind dabei ums Leben gekommen.

Die Lebensbedingungen sind noch immer schwer erträglich: Seit das Haus meines Bruders zerstört wurde und er mit seiner fünfköpfigen Familie bei uns eingezogen ist, leben wir zu elft auf engem Raum in meinem Elternhaus. Es gibt kein fließendes Wasser und nur selten Strom. Aber immerhin muss niemand mehr sterben in Aleppo. Die Leute sind zufrieden, sie interessieren sich nicht für Politik, sie wollen einfach ihre Ruhe.

Es gibt vier Gründe, warum ich trotz all dem Terror nicht aus Syrien geflohen bin: Erstens, weil ich unbedingt meinen Studienabschluss machen will, sonst wäre das ganze Lernen umsonst gewesen. Zweitens, weil ich einfach nicht das Geld habe für die Flucht. Drittens, weil ich kein Land gesehen habe, das mich willkommen geheißen hätte. Und viertens, weil ich Syrien liebe. Wir werden wieder Frieden haben, wir müssen nur geduldig sein. Ich bin mir sicher, dass uns unser starker Führer Bashar al-Assad sicher aus dieser Krise führen wird. Bevor die Aufstände 2011 losgingen, hatten wir ein gutes Leben, das Land hat sich in eine gute Richtung entwickelt und die Wirtschaft blühte auf. Eines Tages wird Syrien wieder so sein wie früher, dann werden auch die Touristen zurückkommen und über die Schönheit dieses Landes reden und nicht mehr über den Krieg.

Foto: Mustafa

Afrin hatte im Jahr 2003 rund 44.000 Einwohner. Die Stadt liegt an der Grenze zur Türkei im autonomen Kurdengebiet.

Gefangen im Freiluftgefängnis
Guleh (55) aus Afrin, Kontrolle: YPG (kurdische Volksverteidigungseinheiten)

Wir leben seit fünf Jahren unter Belagerung. Im Norden baut die Türkei eine illegale Mauer auf syrischem Gebiet. Sie zerstören dabei die Olivenplantagen der Bauern, und jeder, der sich ihnen in den Weg stellt, wird erschossen. Sie warten nur darauf, dass die Welt sich von uns abwendet und sie uns in aller Stille eliminieren können.

Auf der anderen Seite sind wir von zahlreichen Islamistenmilizen umzingelt, die versuchen, unser Gebiet einzunehmen. Am schlimmsten war es 2013, als gleich 20 verschiedene islamistische Gruppen loszogen, um "ihr" Land von den Ungläubigen, wie sie uns nennen, zu befreien. Ich bin Kurdin und Jesidin. Mein Leben lang wurde ich in Syrien diskriminiert. Seit dem Putsch der Baathisten um Hafez al-Assad 1963 leben wir in einem Freiluftgefängnis. Unsere Sprache und unsere Traditionen wurden verboten. Als mein Mann zum jesidischen Neujahrsfest im April eine Feier veranstaltete, verhafteten sie ihn und kündigten ihn nach 30 Jahren.

Deshalb war ich voller Hoffnung, als die Menschen in Syrien gegen das Regime aufstanden. Wir Kurden wollten teilnehmen an der arabischen Revolution. Aber der Großteil der Araber betrachtete uns wie das Regime als Feinde.

Heute versuchen die Kämpfer der YPG, unsere Stadt so gut es geht zu beschützen. Araber und Kurden stehen hier Seite an Seite.

Ich arbeite ehrenamtlich als Frauenrechtsaktivistin und setze mich für die Rechte jesidischer Frauen in den kurdischen Gebieten ein.

Mein Geld verdiene ich in einer Textilfabrik. Damit kann ich gerade so meine Familie, meinen Mann, meinen Sohn und meine Tochter ernähren. Lebensmittel sind so teuer geworden. Alles, was wir zum Leben brauchen, müssen wir zu überteuerten Preisen von Warlords kaufen, weil alle Zufahrtsstraßen blockiert sind.

(Bartholomäus von Laffert und Ahmad Aldali, 17.6.2017)

Foto: Guleh