Der Drang, wie die anderen sein zu wollen und sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, kann bei Kindern in einem bestimmten Alter sehr stark sein.

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Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Wir haben eine wunderbare neunjährige Tochter, die in die zweite Klasse geht. Ihre 23-jährige Schwester wohnt nicht mehr bei uns. Im Grunde ist unsere jüngere Tochter meist fröhlich und recht unkompliziert. Sie spielt gern allein und auch mit anderen. Uns fällt aber auf, dass sie lieber mit Burschen zusammen ist. Sie sagt dazu: "Entweder allein oder mit den Buben." Sie war nie eine treibende Kraft, was Mädchenfreundschaften oder Eigeninitiative betrifft, also von sich aus Freunde einzuladen oder auf sie zuzugehen. Sie hat sich auch für Fußballspielen entschieden und wartet nach dem Training, bis die Buben zusammenkommen und sie dann mit kann.

Als Vater frage ich mich jetzt, ob es einerseits sinnvoll ist, wenn sie mehr Mädchenfreundschaften pflegen würde. Und ob und wie wir sie dabei unterstützen könnten, mehr Initiative zu zeigen. Ich denke, es ist unsere Pflicht, unsere Kinder zu unterstützen, wenn wir als Eltern sehen, wo sie Schwierigkeiten haben.

Antwort

Sie sprechen ein Thema an, das uns Eltern zwingt herauszufinden, ob etwas wirklich ein Problem für das Kind oder eher für uns selbst ist. Wenn es ein Problem für Ihre Tochter ist, gilt es festzustellen, ob sie überhaupt Hilfe möchte. Ihre Tochter zeigt – wie auch viele Erwachsene – mit ihrem Verhalten, dass ein bestimmtes soziales Verhalten noch nicht unbedingt eine soziale Phobie sein muss.

Ich lese aus Ihrer Beschreibung eine Unsicherheit Ihrerseits heraus, in der Gedanken und Gefühle nicht direkt angesprochen werden. Das führt meist zu einem Dilemma für das Kind: Es fragt sich, wer ist mein Vater, wer ist meine Mutter wirklich? Das kann zur Folge haben, dass das Kind ein bisschen unsicher, ängstlich und vorsichtig seinen Eltern gegenüber wird.

Mädchen spielen in dem Alter Ihrer Tochter meist komplizierte Spiele. Burschen sind in der Regel diesbezüglich etwas "einfacher" und bewegen sich gern. Es kann für manche Kinder in diesem Alter schwierig sein, ihre Rolle zu finden und eine persönliche Präferenz zu entwickeln.

Ihre Tochter ist aufgrund des großen Altersunterschieds zur Schwester sozusagen ein Einzelkind. Ich würde sie fast als Kind mit drei Elternteilen beschreiben. Vielleicht ist es auch so, dass sie in den ersten neun Lebensjahren viel Aufmerksamkeit und Hilfe auf einer soliden Basis bekommen hat und so ein gewisser "Mangel" an anderen Lebenserfahrungen – wie eben Konflikte – entstanden ist.

Ich glaube nicht, dass sie im klassischen Sinn unter einem geringen Selbstgefühl leidet, sondern eher unter einem "begrenzten Selbstgefühl". Damit meine ich, dass sie eventuell selten Dinge erlebt hat, die wir meist als "problematisch" oder "unerwünscht" betrachten, wie eben Traurigkeit, Angst, Aggression und Ähnliches.

Sie als Eltern könnten sich selbst befragen, wie es um Ihr Bewusstsein sich selbst gegenüber steht: Wie viel wissen Sie über sich selbst, und wie denken Sie über das, was Sie über sich wissen? An Ihrer Stelle würde ich mehr Zeit damit verbringen, Ihre eigene Erfahrung zu entdecken und Ihre Tochter zu beobachten. Was erlebt sie in ihrem eigenen Kontext wirklich? Empfindet sie selbst es als schwierig, eine Position einzunehmen? Ist Ihre Tochter wirklich traurig, oder haben eher Sie das Gefühl, dass sie etwas verpasst? Wie erleben Sie Ihre Tochter, wenn sie einen liebevollen Schubs von Ihnen bekommt? Ist sie dankbar dafür, oder macht sie vielleicht mit, weil sie ihren Vater nicht enttäuschen möchte?

Ihr Wunsch, Wege zu finden, um Ihre Tochter zu unterstützen, ist gut, wenn es darum geht, mehr Vertrauen in ihr aufzubauen – eine Mischung aus gutem Selbstgefühl und sozialem Vertrauen. Das kann ein paar Jahre dauern. Versuchen Sie, Ihre Tochter sowohl zu Hause als auch in Gesellschaft mit anderen zu beobachten. Sieht sie aus wie ein ausgewogener Mensch, der offen und heiter ist, oder verhält sie sich unruhig? Nehmen Sie dabei Ihren Fokus von den sozialen Aktionen der Tochter und lenken Sie ihn auf ihr Gesicht, ihre Augen und ihre Körpersprache. Wenn sie den Eindruck macht, dass sie sich wohlfühlt, so besteht keine Veranlassung dazu, ihr "Inspiration" für soziale Aktivitäten anzubieten.

Sie ist neun Jahre alt und wird nun vermehrt sich selbst und ihresgleichen reflektieren. Sie steht bereits mitten im Prozess, ihre eigene Identität zu schaffen – und vielleicht ist sie einer jener Menschen, die sich zuerst mit sich selbst konfrontieren, bevor sie sich aktiv in Gruppendynamiken begeben. Das kann dazu führen, dass in ihr Zweifel und Frustration entstehen und dass sie sich manchmal als "falsch" oder unzureichend empfindet, weil sie nicht wie die anderen ist. Dieser Drang, wie die anderen sein zu wollen und sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, ist in diesem Alter sehr stark und hat seine Schattenseiten.

Folgen Sie mit Interesse der Entwicklung Ihrer Tochter. Geben Sie sich selbst Worte, um Ihr Empfinden zu beschreiben. Sollten Ihre Frustration und Ihre Trauer über das "Anderssein" Ihrer Tochter anhalten, versuchen sie diese Gefühle so einfühlsam wie möglich mit ihrem Kind zu teilen.

Denken Sie weniger an das "Problem" Ihrer Tochter, sondern lieber an eine spätere selbstbewusste 18-Jährige, die eigene Fähigkeiten besitzt, eigene Ziele verfolgt und mit sozialen Zwängen entspannt umgeht. Im Moment geht es um ein neunjähriges Mädchen, das sich derzeit vielleicht eher ungern auf soziale Herausforderungen einlassen möchte. Ein Mangel an "sozialer Kompetenz" in Zukunft muss damit aber keineswegs verbunden sein.