Wien – Eines ist Gustav H. trotz seines fortgeschrittenen Alters sicher nicht: ein Gentleman der alten Schule. Als solcher wäre er wohl kaum weitergefahren, wenn er eine umgestürzte Rollstuhlfahrerin auf dem Zebrastreifen liegen sieht. Das machte der 72-Jährige aber am 1. Dezember 2015, wie er vor Richter Christian Böhm zugibt. Nur: Er habe die Frau und ihre Betreuerin nicht zuvor angefahren, sei danach nicht geflüchtet und sei damals auch ganz sicher nicht betrunken hinter dem Lenkrad gesessen.

Der Geschäftsführer erzählt die Sache so: "Ich habe vor dem Zebrastreifen gehalten, die sind darübergegangen. Plötzlich ist der Rollstuhl dagelegen." Warum das Utensil umgestürzt sein soll, kann er nur vermuten: "Es hat geregnet, die Gehsteigkante ist abgeschrägt, vielleicht ist die Betreuerin gestürzt."

Nur Rollstuhlfahrerin wahrgenommen

Er habe jedenfalls nur die liegende Rollstuhlfahrerin wahrgenommen. "Ich habe durch das Fenster gefragt, ob alles passt, und die Dame hat 'Ja, ja' gesagt", schildert er. Daher sei er um sie herumgefahren, er habe einen Termin gehabt. "Sie haben sich gedacht, 'Passt eh, sie braucht zwar einen Rollstuhl, um sich fortzubewegen, aber wenn sie auf dem Boden liegt und sagt, es ist alles in Ordnung, kann ich weiterfahren?'", wundert sich der Richter. "Ja, das habe ich mir gedacht."

Dass ihn 20 oder 30 Meter später noch ein Passant aufgehalten und mit ihm gesprochen habe, gibt er auch zu, er habe aber nicht wirklich gewusst, was der Mann von ihm wolle. Daher sei er heimgefahren. Um 18 Uhr sei er dort mit einem Handwerker verabredet gewesen. Und der sei auch der Grund, warum ein Alkomattest zwei Stunden nach dem Vorfall beim Zebrastreifen bei H. einen Wert von 1,64 Promille ergeben hat.

In 20 Minuten einen Viertelliter Schnaps

Denn: "Wir haben über das Ausmalen der Wohnung gesprochen. Dann haben wir Unicum getrunken, und er ist gegangen, kurz bevor die Polizei gekommen ist." Das Interessante daran ist die Menge des getrunkenen Alkohols: In gut 20 Minuten will H. einen halben Liter Bier und einen Viertelliter 40-prozentigen ungarischen Kräuterschnaps gekippt haben.

Noch Interessanter: Die Polizistin, die die Amtshandlung führte, hat etwas ganz anderes aufgeschrieben. Der erzählte er nämlich auf die Frage, was passiert sei, es habe einen Zusammenstoß gegeben, es sei aber niemand verletzt worden. Als er um 18 Uhr heimgekommen sei, habe er "Fleisch mit Ei" gegessen und ein kleines Bier dazu getrunken.

"Der Maler und der Viertelliter Schnaps kommen zum ersten Mal ja erst viel später, in einer Eingabe Ihrer Verteidigerin", merkt der Richter kritisch an. "Warum haben Sie zwar etwas von einem kleinen Bier gesagt, aber nichts vom Schnaps?" – "Mir war nicht klar, dass das beim Alkomaten so viel anzeigt", versucht der Angeklagte zu argumentieren. "Dass ein Alkomat nach einem Viertelliter Schnaps und einem Bier das anzeigt, ist nicht ganz ungewöhnlich", kontert Böhm. "Es war ein Fehler, ich hätte das mit dem Schnaps gleich sagen sollen."

Keine Gefälligkeitsaussage

Der Maler, der mehrmals auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen wird, bestätigt die Geschichte. Warum er mit Herrn H., den er nur flüchtig kenne, aus heiterem Himmel so viel gebechert habe, dass er dann sogar das Auto stehen lassen musste, kann er aber nicht erklären. Gefälligkeitsaussage sei es aber keine.

Nicht nur bei Böhm drängt sich dieser Verdacht aber auf. Denn sowohl die Rollstuhlfahrerin als auch ihre Betreuerin, die relativ schwer verletzt wurde, und einer von zwei unbeteiligten Passanten sagen recht schlüssig aus, H. sei vor dem Schutzweg zwar langsamer geworden, dann aber doch weitergefahren, und habe die Betreuerin touchiert.

Da aber der zweite Tatzeuge nicht erschienen ist, muss Böhm auf den 24. Juli vertagen. (Michael Möseneder, 20.6.2017)