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Afrikaner im Schlauchboot vor Libyens Küste: "Von Schleppern inszeniertes russisches Roulette."

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Denkfabrikleiter Gerald Knaus hält Abkommen mit westafrikanischen Staaten für eine Lösung, um den Zustrom an Menschen zu stoppen: "Doch die EU bietet nur leere Versprechen."

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STANDARD: Außenminister Sebastian Kurz spricht davon, die Mittelmeerroute für Flüchtlinge zu schließen. Ist das wirklich ein "populistischer Vollholler", wie Kanzler Christian Kern meint?

Knaus: Zweifellos ist es nötig, dringend etwas gegen das von Schleppern inszenierte russische Roulette zu tun, das sich vor der nordafrikanischen Küste abspielt: Menschen warten in ihren winzigen Booten auf dem Meer darauf, dass sie gerettet werden – oder ertrinken. Doch diese tägliche Tragödie lässt sich nicht mit Schlagworten beenden.

STANDARD: Wenn man die Route versperrt, werden sich weniger auf den Weg machen, sagt Kurz. Das klingt doch schlüssig.

Knaus: Es ist richtig, wenn der Außenminister sagt, man braucht Anreize, damit sich weniger Menschen, die keinen Schutz brauchen, aus Westafrika auf den lebensgefährlichen Weg durch die Sahara und Libyen machen. Doch damit umsetzbare Politik entsteht, braucht man ein detailliertes Konzept und Partner für konkrete Absprachen.

STANDARD: Kurz stellt seine Vision so dar: Die Menschen müssen an der EU-Außengrenze gestoppt oder in Nordafrika gleich am Wegfahren gehindert werden, in Lagern versorgt und zurückgestellt werden. Was ist daran nicht realistisch?

Knaus: An diesem Plan ist alles unrealistisch. Man kann nicht so tun, als könnte die EU Leute nach Nordafrika zurückschicken, wenn keines der betroffenen Länder dazu bereit ist – es handelt sich erfreulicherweise um keine Kolonien mehr, die man zwingen könnte. Die Tunesier haben klipp und klar gesagt, sie nehmen nur Staatsbürger zurück und werden keine Lager für die EU unterhalten. Als Europäer kann man nur sagen: zum Glück. Denn dort würden sich in kurzer Zeit tausende Menschen sammeln, die Tunesien nicht in die Herkunftsländer zurückschicken könnte: Wie soll ein nordafrikanischer Staat etwas schaffen, was Ländern wie Deutschland, Österreich oder Schweden nicht gelingt? Das von Milizen beherrschte Libyen fällt ohnedies aus, dort gibt es keinen Staat, der Grundrechte garantieren kann. Die Sicherheitslage ist so katastrophal, dass die meisten EU-Länder nicht einmal eine Botschaft haben.

STANDARD: Nicht nur der Außenminister denkt an Lager in Nordafrika. Der Kanzler spricht von Zentren, die im Gegensatz zu Kurz' Vorschlag Asylverfahren durchführen.

Knaus: Ob mit Asylverfahren oder ohne: Für Lager gibt es in Nordafrika keine Partner. Ob dies nun Kern oder Kurz verspricht: Es wird nicht passieren. Es gibt im Mittelmeer auch keine Inseln, auf denen die EU – nach dem Vorbild Australiens – Flüchtlinge abladen könnte. Der Glaube, dass sich Migranten mit einer Aufstockung der Entwicklungshilfe aufhalten lassen, ist ebenfalls weltfremd. In vielen westafrikanischen Ländern überweist die Diaspora im Ausland ein Vielfaches von dem, was die EU-Hilfszahlungen ausmacht.

STANDARD: Auch an der Schließung der Balkanroute hätten alle gezweifelt, hält Kurz Skeptikern entgegen. Er habe den Plan trotzdem erfolgreich durchgesetzt.

Knaus: Abgesehen von jenen, die durch die wiederbelebte Schlepperei trotzdem noch über diese Route kamen: Die teilweise Schließung greift nur, weil seit Ende März 2016 dramatisch weniger Leute überhaupt Griechenland erreichen. Kämen dort täglich nicht 50, sondern 500 Menschen an, könnten die schwachen Balkanstaaten den Zustrom an den Grenzen nie aufhalten. Und Griechenland hätte auch kein Interesse, das zu tun. Ohne das Abkommen der EU mit der Türkei würde die Balkanroutenschließung nicht funktionieren.

STANDARD: Wie greift dieses?

Knaus: Die EU sagte große Summen – einige Milliarden – für die Integration syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu, dafür verpflichtete sich diese, ab einem Stichtag alle Neuankömmlinge in Griechenland zurückzunehmen. Die Türken haben erwartet, dass sie nicht viele Leute werden zurücknehmen müssen, wenn sie dies fest zusagen: Sobald die Rücknahme feststand, machten sich binnen kürzester Zeit viel weniger auf den Weg über die Ägäis. Doch zurückschicken kann man nur, wenn die Türkei diese Menschen gut behandelt. Darauf muss die EU weiterhin drängen, sonst ist das Abkommen in Gefahr. Und aus der Politik des Stichtages X muss man für die Mittelmeerroute lernen.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Knaus: Statt mit Nordafrika muss die EU mit den westafrikanischen Staaten verhandeln, wo die meisten der Betroffenen herkommen, und darauf drängen, dass diese nach einem Tag X alle ihre Mitbürger, die in Italien ankommen, zurücknehmen. Aus Nigeria kamen im Vorjahr 39.000 nach Italien, vier von fünf erhalten dort aber keinen Schutz. Doch solange auch Abgelehnte jahrelang in Italien bleiben können, funktioniert das Geschäftsmodell der Schlepper. Um dies zu brechen, muss die EU etwas anbieten: Die Herkunftsstaaten verpflichten sich, alle Staatsbürger, die kein Asyl bekamen, zurückzunehmen. Dafür nimmt Europa ein jährliches Kontingent an Studenten und Arbeitnehmern auf. Dann werden sich viel weniger Menschen auf den Weg machen.

STANDARD: Bietet die EU nichts an?

Knaus: Die EU lädt immer wieder zu Gipfeltreffen, bietet aber nur leere Versprechen. Leider wird die Debatte ideologisch geführt. Ungarn Präsident Viktor Orbán suggeriert, es sei nur eine Frage des Willens: Wenn wir wollen, können wir Flüchtlinge stoppen. Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen warnen zu Recht vor der Aushebelung des Asylrechts, stehen aber dem täglichen Sterben im Mittelmeer ohne gangbare Alternative gegenüber. Dabei schreit der Ausnahmezustand nach Handeln: Im letzten Jahr sind mehr als 4500 Leute vor Libyen ertrunken, und heuer kommen mehr Leute in Italien an als je zuvor. (Gerald John, 20.6.2017)