Die Angeklagten wurden streng bewacht in den Gerichtssaal geführt.

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Kecskemét – Unter enormem Interesse internationaler Medien hat am Mittwoch in der südungarischen Stadt Kecskemét der Prozess gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für den Tod von 71 Flüchtlingen im Sommer 2015 begonnen. Zwei burgenländische Polizisten waren damals in einer Autobahnbucht auf der A4 auf Parndorf auf einen schon seit dem Vortag dort abgestellten Kühllaster aufmerksam geworden. Als sie die versperrte Ladetür öffneten, fanden sie die Leichen von 59 Männern, acht Frauen und vier Kindern. Die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan waren im luftdichten Laderaum qualvoll erstickt.

Im ungarischen Kecskemét startete der Prozess gegen jene elf Schlepper, die für den Tod von 71 Menschen verantwortlich sein sollen, die auf der A4 in einem Kühlwagen einfach stehen gelassen wurden.
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Elf Männer, einer davon ist aber noch auf der Flucht, sind in Kecskemét wegen Mordes und gewerbsmäßiger Schleuserei angeklagt: neun Bulgaren, ein bulgarisch-libanesischer Doppelstaatsbürger und ein Afghane. Der 30-jährige L. S. aus Jalalabad im Osten Afghanistans soll der Kopf der Bande gewesen sein. Er war selbst Jahre zuvor als Flüchtling nach Ungarn gekommen und hatte in Budapest mit einer Ungarin zusammengelebt.

Er und drei weitere Bulgaren sind unmittelbar wegen der Organisierung und Durchführung der Todesfahrt des Parndorfer Lkws angeklagt. Ihnen droht eine lebenslange Haftstrafe, möglicherweise ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Insgesamt soll die Bande zwischen Februar und August bei 31 Schleuserfahrten 1200 Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland gebracht und dabei mindestens 300.000 Euro eingenommen haben.

Beschwerde über Dolmetscherin

Die Angeklagten kamen in Handschellen, begleitet von teils vermummten Justizwachebeamten. Sie mussten sich einen Weg durch die Menge von zahlreichen Fotografen und Kameraleuten bahnen. Kaum hatte der vorsitzende Richter János Jádi die Verhandlung eröffnet, beschwerte sich der afghanische Hauptangeklagte, dass er die Gerichtsdolmetscherin nicht verstehe. Ein mehr als halbstündiger Disput entfaltete sich. Die Dolmetscherin, eine gebürtige Afghanin, verwehrte sich gegen den Vorwurf, kein Paschtu – die Muttersprache des Angeklagten – zu sprechen. Für die Aussage des Angeklagten wird dennoch ein anderer Übersetzer bestellt.

Es folgte die fast fünfstündige Verlesung der Anklageschrift durch Staatsanwalt Gábor Schmidt. Der "Fall Parndorf" war dabei der schwerwiegendste der 26 Anklagepunkte.

Menschen schreien und klopfen gehört

"Die vier Hauptangeklagten waren sich im Klaren darüber, dass die Insassen im Laderaum sterben würden, wenn die Tür nicht geöffnet wird", führte der Staatsanwalt aus. Der Fahrer des Lkws, ein 26-jährige Bulgare, habe mehrfach gehört, wie die Menschen schrien und an die Wände schlugen. Er habe Komplizen, die die Fahrt als Späher begleiteten, telefonisch immer wieder darauf aufmerksam gemacht.

Der mutmaßliche Kopf der Bande habe aber über Telefon die strikte Weisung erteilt, in keinem Fall stehenzubleiben und die Ladetür zu öffnen. In einem der Telefonate, so der Staatsanwalt, habe der Afghane "in aufgewühltem Ton" erklärt, dass die Menschen im Lastwagen sterben sollen. Der Fahrer solle sie dann einfach irgendwo in Deutschland abladen.

67 konnten sich retten

Noch am Tag, als der Lkw in Parndorf gefunden wurde, sollen L. S. und drei weitere Angeklagte eine weitere Kühllasterfahrt organisiert haben. Wie auch sonst immer ließ sich der Fahrer vom begleitenden Spähfahrzeug abholen, um möglichst schnell zu verschwinden. Die 67 Insassen überlebten, weil es ihnen gelungen war, bei Gols im Burgenland die Ladetür von innen aufzubrechen.

Am frühen Nachmittag war der erste Verhandlungstag beendet. Heute, Donnerstag, sollen der mutmaßliche Schlepperchef und sein Stellvertreter erstmals befragt werden. (Gregor Mayer, 21.6.2017)