Über Nahrung werde heute gesellschaftlicher Wandel ausverhandelt, sagt Ernährungsforscherin Hanni Rützler.

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Wien – Laut Schätzungen der UN-Landwirtschaftsorganisation (FAO) könnte sich die weltweite Fleischproduktion bis zum Jahre 2050 annähernd verdoppeln. Laut Berechnungen, etwa im Weltagrarbericht der Unesco, werden bereits jetzt 70 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für die Futtermittelproduktion genutzt. "Alarmismus ist dennoch unangebracht", sagt die österreichische Foodtrend-Forscherin Hanni Rützler: "Man darf die Zukunft nicht linear hochrechnen." Denn der Mensch sei lernfähig, und es gehe nun darum, Alternativen zu entwickeln. Mit Hermann und Thomas Neuburger von der gleichnamigen Fleischhauerfirma hat sie Gesprächspartner zu dem Thema gefunden. Bei einer Melange in einem Wiener Kaffeehaus diskutieren sie über gesunde und ökologische Alternativen.

Vater und Sohn führen den familiären Fleischhauerbetrieb in der dritten beziehungsweise vierten Generation. Trotz dieses Hintergrundes plädieren sie dafür, freiwillig weniger Fleisch zu konsumieren: Zweimal in der Woche sei genug. Seit Jahren forscht das Unternehmen zu Fleischersatzprodukten. Mit "Hermann Fleischlos" gibt es seit dem Vorjahr eine Produktlinie.

Hermann Neuburger hat 1970 als Fleischhauer begonnen, da "war die Welt noch in Ordnung, wie man so schön sagt". Die Schweine wurden von den Fleischverarbeitern direkt vom Bauern abgeholt. Die Menschen konnten sich etwa zweimal in der Woche Fleisch leisten; seither habe sich viel verändert. Der Konsument müsse zwar selbst Verantwortung übernehmen, wie viel Fleisch und von welcher Qualität gegessen werde, aber, so Neuburger: "Als Fleischproduzent hat man noch eine ganz andere Verantwortung – man fördert das ja."

Die Dumpingpreise – gerade wieder zur Grillsaison – seien schon "unappetitlich", wirft Hanni Rützler ein, wenn man sich in das Bewusstsein rufe, wie aufwendig die tierische Lebensmittelproduktion ist, was das Tier wohl zu essen bekommen hat und wie viel der Mensch verdient hat, der damit in Berührung gekommen ist.

Auch die Ernährungsforscherin denkt, dass gerade durch diese Abwertung des Fleisches ein Wandel kommen könnte. Denn Fleisch galt lange als Luxusgut der Reichen. Es habe eine "Demokratisierung des Fleischkonsums" stattgefunden: "Jeder kann es sich nun leisten. Aber das ist erreicht." Nun stelle sich die Frage, wo das Ende der Entwicklung ist und wie weit eine fortschreitende Industrialisierung einer Fleischproduktion noch sinnvoll ist. Es gehe nun um eine neue Wertschätzung für das Tier: "Wenn Fleisch kaum etwas wert ist, wird auch viel entsorgt. Gerade bei tierischen Produkten wird viel weggeworfen."

Mündiger Konsument

90 Prozent des Eiweißfutters für Nutztiere kommen in Europa aus Südamerika, hakt Hermann Neuburger nach. "Da stimmt etwas nicht, wenn das zu diesen Preisen geht." Es sei bekannt, wie viele Flächen des Regenwaldes dort für Sojaanbau vernichtet werden. "Das ist eine lange Kette an Dingen, die man nicht verantworten kann. Aber es schaut keiner hin."

Sind also politische Maßnahmen gefragt? Es sei problematisch, wenn die Politik dort eingreift, wo es um höchstpersönliche Entscheidungen wie die Ernährung geht, so Rützler. Es sei aber durchaus möglich, sich die Vorschriften für die Nahrungsmittelgewinnung genau anzusehen. Thomas Neuburger appelliert an die Eigenverantwortung: "Man darf Konsumenten nicht entmündigen. Man kann sehr wohl Fleischpreise vergleichen." Es gebe auch in Supermärkten ein breites Angebot. Selbst im Biobereich sei Fleisch heute nicht unleistbar.

Auch aufgrund dieser Entwicklungen hat sich Hermann Neuburger vor zehn Jahren vorgenommen, noch einmal einen "Ausflug in eine andere Richtung" zu unternehmen. Er reiste nach Taiwan, China und mehrmals nach Japan. Auf Basis dieser Recherche begannen Forschungen zu drei Produktgruppen: Soja, Seitan und Pilze. Kräuterseitlinge machten schließlich das Rennen – nicht nur wegen des Geschmacks und der Konsistenz. Ihnen werden zahlreiche gesundheitsfördernde Wirkungen nachgesagt. Das Unternehmen will in diesem Bereich weitere Forschungen in Auftrag geben.

Die eigene Vorgabe war es, ein Produkt ohne künstliche Aromen und Zusatzstoffe zu schaffen. Der Kräuterseitling werde nicht umsonst Kalbsfleischpilz oder Austernpilz genannt, sagt Thomas Neuburger: "Er hat eine fasrige, leicht fleischige Textur und ein mildes Aroma." Das sei eine gute Basis, um die Geschmacksnote neutral zu belassen oder würziger zu gestalten. Dazu werden ausschließlich Reis, Pflanzenöl, Hühnerei, Salz, Pfeffer und Gewürze beigemischt.

Gerade auf dem deutschen Markt könne man beobachten, so Thomas Neuburger, dass die Produkte geschmacklich und sensorisch nicht dem entsprechen, was Konsumenten erwarten: "Der Konsument will keine lange Zutatenliste." Im eigenen Steinkeller des 200 Jahre alten Hauses wurden vor ein paar Jahren erste Versuche gestartet. Mittelfristig will Neuburger alle Kräuterseitlinge auf heimischem Hartholz in Ulrichsberg in Oberösterreich selbst züchten.

Warum wird aber ein Produkt, das etwas Neues anbieten will, dennoch in eine Fleischform gepresst und so vermarktet? "Das war eine lange Diskussion", gibt Hermann Neuburger zu. Aber im Zweifelsfall, wenn der Kunde im Supermarkt nicht viel Zeit hat, etwas zu bewerten, werde zum Vertrauten gegriffen.

"Pseudoreligiöse Aufladung"

Nahrungsforscherin Rützler betrachtet eine zunehmende Aufladung des Essens mit Werten und Moralvorstellungen auch kritisch: "Essen hat eine große emotionale – man möchte fast sagen pseudoreligiöse – Aufladung erfahren." Über Nahrung, speziell über Fleischkonsum, werde heute gesellschaftlicher Wandel ausverhandelt. Denn beim Essen könne man noch Einfluss nehmen, was bei vielen anderen Lebensbereichen nicht gehe. Gerade bei der veganen Ernährung gebe es nur "Richtig und Falsch, Gut und Böse". Rützler ergänzt: "Aber ich glaube, es braucht komplexe Antworten für komplexe Probleme."

So hätten die WHO und die FAO bereits erste große Studien zum Insektenverzehr initiiert, die aufzeigen, dass Fleisch nicht die einzige hochwertige Eiweißquelle ist. Doch auch ein fantasievollerer Umgang mit Lebensmitteln sei gefragt. "Wichtig ist es, den Leuten keine Angst zu machen, dass man ihnen etwas wegnimmt, sondern Lust auf neue Spielräume." (Julia Schilly, 22.6.2017)