STANDARD: Sie haben ein Buch über die geflüchtete Syrerin Doaa Al Zamel geschrieben, um Einzelschicksale hervorzuheben. Gehen diese in der Berichterstattung unter?

Fleming: Ja, und wenn sie erzählt werden, sind sie immer zu kurz. UNHCR hat am Montag seine jährliche Statistik veröffentlicht: Wieder 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht – Rekordzahlen. Es ist wichtig, dass wir das kommunizieren, da es viel über die weltweite Krisensituation aussagt. Andererseits können diese Zahlen auch dazu führen, dass Leute Angst bekommen und hoffen, dass die Flüchtlinge nicht zu ihnen kommen. Oder sie werden gleichgültig, weil das Problem zu groß ist. Ich wollte den Lesern mit der Geschichte von Doaa einen Zugang zum Syrien-Krieg geben. Doaa war am Kriegsschauplatz, hat die Bomben fallen gesehen, die auch das Geschäft ihres Vaters und damit dessen Existenz und die der Familie zerstörten. Sie hat die Angst gespürt, wenn man als Frau in Syrien lebt. Man versteht in Europa nicht genug, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Wie elend das Leben sein kann, weil es so wenig Hilfe gibt. Durch Doaa lernt man, was Flüchtlinge antreibt, noch einmal ihr Leben zu riskieren um nach Europa zu kommen. Es ist die Hoffnung, die größer ist als die Angst zu sterben.

STANDARD: Wo verschwimmt die Grenze zwischen Flucht und Migration?

Fleming: Flüchtlinge und Migranten werden oft in einen Topf geworfen. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Kriegsflüchtlingen und Menschen, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben. Dabei ist schon allein der Schutz ein anderer: Flüchtlinge haben unter internationalem Recht ein Recht auf Zuflucht, Hilfe und Humanität. Sie können nicht nach Hause gehen.

STANDARD: Sie sollen als Sprecherin 65,6 Millionen Vertriebene vertreten. Wie funktioniert das?

Fleming: Ich war einmal an der Grenze zwischen Äthiopien und Südsudan und habe gesehen, wie die Menschen über die Grenze gekommen sind. Sie waren halb verhungert, waren barfuß, die Kinder mit geschwollenem Bauch. Ich habe mir gedacht, wenn wir nicht da wären, dann wären sie tot. Auf der anderen Seite gibt es Situationen in Flüchtlingslagern, wo wir sehen, dass wir das Essen auf eine extrem niedrige Ration kürzen müssen, weil nicht genug Geld vorhanden ist. Dann habe ich viele schlaflose Nächte, weil ich denke, man müsste mehr tun.

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Flüchtlinge auf ihrem Weg über das Mittelmeer.
Foto: AP/Emilio Morenatti

STANDARD: In dem jüngsten Global Trends Report von UNHCR heißt es, dass sich die große Mehrheit der Flüchtlinge in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen befindet. Ist die Sicht Europas als zentrale Anlaufstelle verklärt?

Fleming: 84 Prozent aller Flüchtlinge befinden sich in Entwicklungsländern, nicht in Europa. Das sind die Länder, die Flüchtlingskrisen haben und unsere Unterstützung brauchen. Es kann nicht sein, dass nur aufgrund von Geografie ein Land wie Kenia oder Pakistan die ganze Verantwortung für die Flüchtlinge übernehmen muss. Diese Länder haben genug Probleme, ihre eigene Bevölkerung zu versorgen. Es ist ein Wunder, dass sie trotz der großen Anzahl an Flüchtlingen die Grenzen offengehalten und die Menschen willkommen geheißen haben. Zehn Prozent aller Flüchtlinge sind Opfer von Folter oder Vergewaltigung, Kinder mit gesundheitlichen Problemen, die im Entwicklungsland nicht behandelt werden können. Diese Menschen müssen übersiedelt werden, aber das geschieht zurzeit nur in einem Prozent der Fälle.

STANDARD: Im Südsudan wird seit Juli 2016 wieder gekämpft, 740.000 Menschen sind bis Ende des Jahres geflüchtet. Wie kann diesen Menschen geholfen werden?

Fleming: Uganda, das viele Sudanesen aufgenommen hat, gilt uns als Vorzeigemodell: Weil sie nicht nur die Grenzen offenhalten, sondern auch erlauben, dass die Flüchtlinge arbeiten können. Sie geben jedem ein Stück Land. Humanitäre Hilfe allein macht Flüchtlinge nur abhängig. Sie wollen wieder arbeiten gehen und ein eigenes Leben aufbauen. Länder wie Uganda sollten eine Anerkennung dafür bekommen, nicht nur mit Worten, sondern auch in Form von Geld und Infrastruktur. Dann kann es langfristig auch ein Gewinn für das Aufnahmeland sein.

STANDARD: Was bedeutet für Flüchtlinge der Begriff Heimat?

Fleming: Die meisten denken erst über Heimat nach, wenn sie keine mehr haben. Alle Flüchtlinge, die ich kennengelernt habe, haben gesagt, sie möchten eines Tages nach Hause gehen. Das Haus, in dem man gewohnt hat, noch einmal sehen, in dem bekannten Restaurant noch einmal essen, in dem See schwimmen, in dem man schon immer geschwommen ist. Wenn diese Möglichkeit weggenommen wird, ist das sehr einschneidend.

UNHCR-Sprecherin und Autorin Melissa Fleming in ihrem Büro in der UNO-City in Wien.
Foto: Standard/Newald

STANDARD: Seit Oktober existiert ein Rücknahmeabkommen zwischen den EU-Staaten und Afghanistan. Wie können diese Abschiebungen gerechtfertigt werden, zumal sich die Sicherheitslage in Afghanistan laut eines im März veröffentlichten UN-Berichts weiter verschärft hat?

Fleming: In vielen Teilen Afghanistans ist es weiterhin sehr gefährlich. Für die Entscheidung müssen jeder Fall und jede Person einzeln beurteilt werden.

STANDARD: Nehmen internationale Organisationen und NGOs mit ihrer Unterstützung die Verantwortung von einzelnen Staaten?

Fleming: UNHCR wollte in Europa nicht so aktiv werden, wie wir es jetzt sind. Unsere Aufgabe ist es, in Ländern zu agieren, die uns wirklich brauchen. Wir dachten, Europa wäre in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Das war nicht der Fall. Zudem gibt es immer noch keine einheitliche Flüchtlingspolitik. Wir nennen das "Asyl à la Carte".

STANDARD: Immer wieder heißt es, Flüchtlinge bedrängen den heimischen Arbeitsmarkt. Wie begründet ist diese Sorge?

Fleming: Es geht vor allem um die richtige Integration: Die Vermittlung von Sprache, der Anschluss an Schulen und die Möglichkeit zur Aus- und Weiterbildung. Wenn das passiert, ist es sehr oft ein wirtschaftlicher Vorteil für die Aufnahmeländer.

STANDARD: Österreichs Außenminister Sebastian Kurz spricht sich dafür aus, die Mittelmeerroute zu schließen, um gegen das Geschäft der Schlepper vorzugehen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Fleming: Wo es Armut und Krieg gibt, wird es immer Flüchtlinge geben. Die Schlepper werden raffinierte Wege finden, nach Europa zu fahren. Die Reisen werden teurer und gefährlicher werden, aber das Problem ist dadurch nicht gelöst. Es wird nur woanders hingeschoben.

Melissa Fleming, Sprecherin des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR).
Foto: Standard/Newald

STANDARD: Wie kann Schleppern entgegengewirkt werden?

Fleming: Es braucht mehr Hilfe vor Ort und legale Wege für Flüchtlinge. Nur die Hälfte aller geflüchteten Kinder besucht eine Schule. Das sollen die späteren Ärzte, Ingenieure oder Lehrer des Landes sein. So werden sie die neue verlorene Generation sein, anfällig, gewalttätig zu werden oder sich terroristischen Organisationen anzuschließen.

STANDARD: Wie könnte sich die Flüchtlingssituation in Zukunft entwickeln?

Fleming: Viele Teile dieser Welt werden durch den Klimawandel nicht mehr bewohnbar sein. Wassermangel und Nahrungsmittelknappheit werden zu weiteren Kriegen führen. Auch in Syrien wurde die Unruhe zum Teil durch eine Dürre ausgelöst. Das Unfaire ist, dass es Entwicklungsländer am schwersten trifft.

STANDARD: Wie viel Hoffnung haben Sie, was ein Ende von Vertreibung und Flucht angeht?

Fleming: Die Zahlen an Vertriebenen zeigen, dass die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage ist, Kriege zu beenden. Was mir Hoffnung gibt, sind jene, die Flüchtlingen mit Humanität begegnen: Den Bürgermeistern in Italien, die Tag für Tag Menschen willkommen heißen, obwohl es so viele sind. Die jene begraben, die tot ankommen. Menschen, die ihre Häuser geöffnet haben. Mein Wunsch für nächstes Jahr: nicht wieder Rekordzahlen von Flüchtlingen anzukündigen. (Jakob Pallinger, 24.6.2017)