Auf der von Friedrich Stadler (Universität Wien) im Jahr 1987 organisierten Konferenz "Vertriebene Vernunft. Exil und Emigration österreichischer Wissenschaft" gab der damals an der Universität Pittsburgh lehrende Philosophieprofessor Kurt E. Baier (geboren 1917 in Wien, gestorben 2010 in Neuseeland) auf die Frage "Warum sind Sie emigriert?" folgende Antwort:
Das Unabwendbare: Baier fand sich in einer Kategorie von Menschen wieder, denen nach dem Einmarsch der Nazis nun auch in Österreich die Bürgerrechte entzogen waren (wenngleich, wie er betont, nicht einmal illusionsloseste Realisten damals die "Endlösung" vorausahnten). Es blieb nur die Emigration.
Im August 1938 erhielt Baier die Auswanderungsgenehmigung und das Visum für England. Im Juni 1940 wurde er zusammen mit allen deutschen und österreichischen Staatsangehörigen interniert. Von England kam er auf einem berüchtigten Gefangenenschiff, der "Dunera", nach Australien und wurde dort zunächst in einem Lager im Inneren des Kontinents untergebracht. Nach der Verlegung in ein besseres Lager ergab sich die Möglichkeit zu einem Fernstudium an der University of Melbourne, und da sein in Wien begonnenes Jus-Studium in Australien nicht zählte, entschied sich Baier für die Philosophie. Nach dem Krieg konnte er sein Studium fortsetzen und mit einem Stipendium 1952 sein Doktorat in Philosophie an der Universität Oxford erwerben. Seine philosophische Karriere führte ihn über Melbourne und Canberra 1962 an die University of Pittsburgh in den USA, wo er mithalf, eines der weltweit besten Philosophie-Institute aufzubauen.
Der Standpunkt der Moral
Baiers philosophisches Arbeits- und Forschungsgebiet wurde die Ethik. In seinem einflussreichen Buch "Der moralische Standpunkt. Eine rationale Grundlegung der Ethik" (engl. 1958, dt. 1982) stellt er dem ethischen Skeptizismus und Subjektivismus die These entgegen, dass moralische Urteile wahrheitsfähig sind und moralische Prinzipien und Gründe über Vernunftüberlegungen eine objektive Rechtfertigung erfahren können.
Grundlegende Bedingungen von moralischen Regeln sind laut Baier: sie müssen den Interessen der Menschen dienen; sie dürfen niemandem schaden; sie müssen universell sein (alle in gleicher Weise betreffen) und universell lehrbar sein; sie müssen sich auf den Standard der Gerechtigkeit beziehen.
Interessen von Individuen
Baiers Konzeption von Ethik steht mit ihrem Vertrauen auf kritische Vernunftreflexion und universelle Grundsätze in der Tradition Kants. Doch wollte er sich nicht ausschließlich auf diese Kantischen Elemente verlassen. Moral muss für ihn auch in Gründen verankert sein, die auf die Interessen von Individuen Bezug nehmen.
Wie er in seinem Buch "The Rational and the Moral Order" (1992) darlegt, sind die hier maßgeblichen Gründe aber nicht rein im Selbst verankert und auf egoistische Interessen und Nutzenmaximierung gerichtet. Die moralisch relevanten Gründe sind vielmehr in sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Institutionen verankerte Erwägungen, also, wie Baier es nennt, die bestmöglichen Gründe, die jede rational reflektierende Person haben könnte. Die Wahrung berechtigter individueller Interessen muss also über angemessene soziale Institutionen gesichert sein. Diese Übersetzungsleistung in institutionelle Strukturen und Normen muss dann auch die universalistische Dimension und Orientierung berücksichtigen: die soziale Ordnung hat nicht nur das Gut eines jeden im Auge zu haben, sondern das Gut jeder Person in der gleichen Weise.
Unfreiwillige Gruppenzugehörigkeit
Wenngleich Baier bis zu seinem Vortrag in Wien im Jahre 1987 nie öffentlich über seine persönlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sprach, so bestimmten diese zweifellos seine objektivistische Interpretation von Moral. Denn wie er über seine Situation im März 1938 schreibt: "Es gibt, glaube ich, kaum etwas, was einem den Begriff der Ungerechtigkeit klarer macht, als die unfreiwillige Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die das Gesetz und die öffentliche Meinung scharf diskriminiert."
Wie halten wir es mit unseren sozialen Kategorien und Einteilungen? Gestehen wir zumindest zu, dass unsere Gruppenzuordnungen eine Rechtfertigung gegenüber den davon Betroffenen beinhalten? (Herlinde Pauer-Studer, 26.6.2017)