Eine von der Polizei im August 2016 veröffentlichte Aufnahme von einer ausgedehnten Cannabisplantage im Norden des Landes. Albanien galt einst als das am stärksten isolierte Land Europas. Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Kommunismus gilt das Land als Topproduzent von Marihuana.

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Spezialeinheiten der Polizei durchkämmen im September 2016 die Berge in der östlich gelegenen Region Kruja nach den begehrten Hanfpflanzen.

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Mit hereinbrechender Dämmerung wird der Weg durch die Berge immer tückischer. Mit Gjergji an der Spitze geht es zehn Minuten zu Fuß abseits der Straße hinunter in einen Buchenwald bis zu mehreren kleinen Lichtungen, wo die ersten grünen Triebe einer Cannabiszucht aus der Erde ragen.

Die Plantage liegt in der Nähe eines leeren Hauses, das seiner Familie gehört, inmitten der eindrucksvollen Wildnis der albanischen Alpen nahe der Stadt Shkodra im Norden des Landes. Um sich um sie kümmern zu können, ließ der 21-Jährige seinen Hochschulabschluss sausen.

"Diese Pflanze braucht viel Pflege. Aber wenn wir es bis zur Ernte schaffen, verdienen wir gutes Geld", meint er. "Ich werde mein Haus in Shkodra renovieren. Und dann gehe ich nach England." Gjergji holt leere Fünf-Liter-Flaschen aus einem Versteck in den Büschen und füllt sie mit Regenwasser aus den Pfützen auf dem Waldboden, um die Cannabispflanzen zu gießen. "Mehr junge Menschen sind hier oben in den Bergen als unten in der Stadt", erzählt er.

Der Erfolg der Cannabisplantagen hänge jedoch von einem Faktor ab: "Es lohnt sich nur, wenn man jemanden bei der Polizei kennt, der einen vor Razzien in der Gegend warnt. Wenn wir es bis zur Ernte schaffen, dann gehören ungefähr 200 von 2000 Pflanzen ihm." Für den korrupten Beamten bedeutet das einen Geldsegen von mehreren zehntausend Euro, sofern die Pflanzen kräftig sind und hoch wachsen.

Milliardenschwere illegale Industrie

Das ist die Basis einer milliardenschweren illegalen Industrie, die Albanien im Laufe von 25 Jahren zu einer der wichtigsten Quellen für Cannabis auf dem Weltmarkt gemacht hat, gleichauf mit Ländern wie Kolumbien, Jamaika, den Niederlanden und Paraguay.

Während im Rest Europas und in den USA politisch über die Legalisierung von Cannabis, auch und vor allem für medizinische Zwecke (siehe Grafik), diskutiert wird, kämpft das kleine Land auf dem Balkan mit mafiösen Strukturen und einer schier unausrottbaren Korruption auf allen Ebenen.

Zwar erklärte nach dem Regierungswechsel 2013 die neue sozialistische Regierung unter dem Künstler und Politiker Edi Rama den Cannabiszüchtern den Krieg.

In einer fünf Tage dauernden Operation erstürmten Polizeieinheiten im Juni 2014 Lazarat, ein berüchtigtes Drogennest nahe der südlichen Landesgrenze zu Griechenland. Knapp über 101 Tonnen Marihuana wurden beschlagnahmt. Knapp über eine halbe Million Cannabispflanzen wurden zerstört. Im darauffolgenden Jahr waren es bereits 800.000, und in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 vernichtete die Polizei laut eigenen Angaben mehr als doppelt so viel – nämlich 2,1 Millionen Pflanzen.

Die Regierung Ramas sieht darin den Beweis, dass man nun im Begriff ist, den Krieg zu gewinnen.

Polizeischutz für Schmuggler

Die Recherche für das Balkan Fellowship for Journalistic Excellence skizziert jedoch ein differenzierteres Bild: Unbeirrt von diesen Entwicklungen haben sich die Züchter in abgelegene Bergregionen verstreut; Schmuggler brüsten sich mit dem Polizeischutz, den sie genießen; italienische Ermittler staunen ob der Raffinesse der albanischen Verbrecherbanden; und im Rest Europas und in den USA ist man erstaunt ob des Unvermögens des Nato-Partnerlandes Albanien, mit Ausnahme von Handlangern auch nur irgendjemanden zu verhaften oder anzuklagen.

Aber vor allem hartnäckige Armut untergräbt jegliche Bemühungen, Cannabisbauern davon zu überzeugen, dass sie eine Alternative haben. "Kriminelle Organisationen lernen schnell und können sich rasch den Top-down-Gegenmaßnahmen anpassen", so Jana Arsovska, Dozentin am New Yorker John Jay College of Criminal Justice und Expertin für organisiertes Verbrechen in den Balkanländern. "Man braucht die Menschen und die gesamte Gesellschaft, um dieses Problem zu bekämpfen, nicht nur die staatlichen Behörden."

Der Krieg begann in Lazarat, einem Dorf im Süden Albaniens, wo sich im Laufe von 15 Jahren eine europaweit einzigartige Cannabisindustrie entwickelt hatte. Das schwerbewaffnete Dorf war für etwa die Hälfte der Cannabisproduktion Albaniens verantwortlich, etwa 900 Tonnen jährlich, was einem geschätzten Straßenwert in Europa von 4,5 Milliarden Euro entspricht.

Organisiertes Verbrechen

Die Einwohner von Lazarat, die Cannabis ungeniert in ihren Hinterhöfen und auf ihren Feldern anbauten, stimmten regelmäßig für die Demokratische Partei, die zuletzt von 2005 bis 2013 an der Macht war und augenzwinkernd Straffreiheit gewährt hatte.

Rama ordnete die Vernichtung der örtlichen Cannabisindustrie nach knapp einem Jahr seiner Amtszeit an – nur wenige Tage bevor die EU darüber entscheiden sollte, ob man Albanien den begehrten Status eines Beitrittskandidaten zuerkennen wollte.

Etwa 800 Polizeibeamte, darunter Sondereinsatzkräfte in Panzerfahrzeugen, zogen eine enge Schlinge um das Dorf und gerieten unter Beschuss jener, die entschlossen waren, ihre Ernte zu verteidigen, während sie sich nach und nach zurückzogen und über die Berge flohen. Etwa 130.000 Cannabispflanzen gingen in Flammen auf, vier Drogenlabors wurden zerstört, dutzende Personen wurden verhaftet.

Drei Jahre später sitzen allerdings nur zehn Personen in Haft, in erster Linie, weil sie auf Polizisten geschossen und Cannabis gezüchtet hatten. Diese Männer galten weithin als Handlanger einer Operation des organisierten Verbrechens von industriellem Ausmaß, dessen Rädelsführer sich ungehindert davongemacht hatten oder nie vor Ort gewesen waren.

EU bleibt skeptisch

In einem von der EU im November 2016 veröffentlichten Fortschrittsbericht zu Albaniens Antrag auf Mitgliedschaft finden die "beachtlichen Drogensicherstellungen und die Zerstörung von Cannabispflanzen" lobende Erwähnung. Allerdings wird auch auf die nach wie vor geringe Anzahl an Verurteilungen hingewiesen. Ermittlungen und Strafverfolgungen würden "die Drogenlieferkette nicht genügend weit hinaufreichen".

Der Fortschrittsbericht bekrittelte weiters, dass Finanzermittlungen, Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche und die Beschlagnahme von Vermögenswerten "nur unzureichend genutzt" wurden. Zwischen 2010 und 2015 wurden dem Bericht zufolge tatsächlich weniger als 35 Personen der Geldwäsche überführt.

Balkanexpertin Arsovska hat eine Erklärung dafür: "Die albanische Gesellschaft basiert auf einem Sippen- und Freundschaftssystem. Man wird verhaftet, wenn man weder bei der Polizei noch in der öffentlichen Verwaltung Freunde hat."

Der US-amerikanische Botschafter in Tirana, Donald Lu, geht noch einen Schritt weiter. Er spricht von albanischen Politikern, "die von ihren Verbindungen zu Drogenhändlern profitiert haben". Lu: "Wir wissen, dass es mehrere Parlamentsmitglieder und Bürgermeister in Albanien gibt und es auch Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters gegeben hat, die wegen Drogenhandels in EU-Mitgliedsstaaten verurteilt wurden." Weder das albanische Innenministerium noch die Staats- und Grenzpolizei wollten auf Anfrage zu den Vorwürfen Stellung nehmen.

Ausweichen auf andere Gebiete

Indes gibt es Anzeichen, dass die Cannabiszüchter infolge des harten Durchgreifens in Lazarat auf andere Gebiete ausgewichen sind, um die Nachfrage zu befriedigen. Sie kultivieren ihre Pflanzen vermehrt auf öffentlichen Böden, in Wäldern oder auf entlegenen Berghängen, weniger auf Privatbesitz. Dies erschwert es der Polizei nach eigenen Angaben, Plantagen aufzuspüren und zu ermitteln.

In einer internen Analyse des Büros des albanischen Generalstaatsanwalts, die den albanischen Medien im Juni auszugsweise zugespielt wurde, heißt es: "In den letzten Jahren hat sich der Cannabisanbau über das ganze Land und in jeder Region verbreitet." Mit durchschnittlich 218 Sonnentagen im Jahr und mehr als ausreichender Wasserversorgung aus den Bergen ist Albanien ein fruchtbarer Boden für Cannabis.

Die Regierung bestreitet freilich, dass die Cannabisproduktion zugenommen hat und Polizeibeamte darin verwickelt sind. Sie weist auch Anschuldigungen der oppositionellen Demokraten zurück, sie mache mit den Schwarzhändlern gemeinsame Sache.

"In der Öffentlichkeit entsteht der falsche Eindruck, dass die Größe der Cannabisanbauflächen zunimmt", meinte Altin Qato, der stellvertretende Generaldirektor der albanischen Staatspolizei bei einer Pressekonferenz im August. "Dem ist aber nicht so, die Polizei ist einfach besser darin geworden, die illegalen Plantagen aufzuspüren und Maßnahmen zu setzen."

Das Innenministerium verfüge über keine Hinweise, die Polizeibeamte belasteten, sagte Qato. Im September wurden allerdings acht Polizeibeamte entlassen und gegen 21 Beamte Ermittlungen aufgenommen wegen des Verdachts, ihre "Zuständigkeitsbereiche nicht ordnungsgemäß kontrolliert zu haben".

Jahrzehnt ausgeprägter Instabilität

Der kommunistische Diktator Enver Hoxha, der Albaniens Grenzen während der vier Jahrzehnte paranoider stalinistischer Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg abgeriegelt hatte, verbot den Albanern 1946 den Anbau von Cannabis. Zuvor war die Droge für den Freizeitkonsum und als Beruhigungsmittel für Kinder frei im Handel erhältlich gewesen. Unter Hoxha baute der Staat die Pflanze für den Export auf dem Gelände der heutigen Fakultät für Landwirtschaft in Kamza an, einer Gemeinde der Region Tirana.

"Es handelte sich um hochwertiges Cannabis", sagt Ahmet Osja, der letzte Landwirtschaftsminister der Regierungspartei vor dem Fall des Kommunismus 1991/92. "Die Schweizer schätzten seine hohe Qualität aufgrund der guten Lichtverhältnisse. Es wurde für Arzneimittel, Heilkräuter und zur Herstellung von Tauen und Seilen verwendet."

Das Ende des Kommunismus leitete ein Jahrzehnt ausgeprägter Instabilität ein, mit Bürgerunruhen im eigenen Land und bewaffneten Konflikten im benachbarten ehemaligen Jugoslawien. Alles entglitt – auch der Cannabisanbau.

Alle tun es

In Hoti, einem entlegenen Bergdorf an der Grenze zwischen Albanien und Montenegro, deutet ein Schmuggler auf einen schmalen, von Büschen und Bäumen verdeckten Weg. "Ab hier verwenden wir Tiere als Transportmittel", erklärt er. "Sobald man sich geeinigt hat, ist die Aufgabe der Polizei einfach. Sie haben nicht mehr die Berge auf dem Radar, sondern überwachen die Gegend in Richtung Skutarisee und geben uns Bescheid, wenn die Straße frei ist."

Die "Transporteure", wie sie sich selbst nennen, verwenden Esel, die mit 50 bis 100 Kilo Cannabispflanzen beladen sind. Normalerweise würden nur jene festgenommen, die im Alleingang handeln oder ihre Kontaktpersonen bei der Grenzpolizei nicht gebührend bezahlen, sagt der Schmuggler.

In Hoti nimmt einer dieser Transporteure in einer Ecke der Terrasse eines Straßencafés Platz. Er sagt, sein Name sei Gezim. "Hier hat jeder Ohren, aber alle tun es", meint er. Wie andere Transporteure auch ist er mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut und hat Beziehungen zur Polizei. "Die Bezahlung ist immer gleich, 50 Euro pro Kilo", sagt Gezim, "wenn du das tun willst, dann musst du mit jenen sprechen, die an der Macht sind. Sonst landest du für lange Zeit hinter Gittern."

Land- oder Luftweg

Nach albanischem Gesetz wird der Anbau oder Transport von Cannabis mit drei bis sieben Jahren Haft bestraft. Gehört man einer organisierten Gruppe an, drohen fünf bis zehn Jahre. Rädelsführer müssen mit Freiheitsstrafen zwischen sieben und 15 Jahren rechnen.

Von Hoti nach Montenegro finden die Drogen ihren Weg auf dem Landweg über die durchlässigen Grenzen der ehemaligen jugoslawischen Republiken, durch Serbien, Bosnien oder Kroatien, und gelangen schließlich in den Schengenraum der EU, zunächst nach Ungarn oder Slowenien.

Andere Schmuggler wählen die direktere Route auf dem See- oder Luftweg von den Westküsten Albaniens zur apulischen Küste in Süditalien. Etwas über 200 Kilometer trennen das albanische Durrës von der italienischen Hafenstadt Bari. "Marihuana aus Albanien wird häufig mit schnellen Motorbooten, auf dem Landweg durch Montenegro, Kroatien und Slowenien oder in kleinen Piper-Flugzeugen transportiert", berichtete ein Ermittler der Guardia di Finanza, der italienischen Finanzpolizei, die für die Bekämpfung von Finanzkriminalität, Schmuggel und Drogenhandel zuständig ist. Dabei werfen Schwarzhändler große Mengen an Rauschgift einfach in Apulien ab, wo ihre Helfer am Boden bereits warten.

Den Zahlen der Guardia di Finanza zufolge wurden 2014 etwas mehr als drei Tonnen Cannabis im Hafen beschlagnahmt. Diese Zahl verringerte sich 2015 auf 1,8 Tonnen, jedoch wurde an einem einzigen Tag im Juli 2016 ein zehn Meter langes Boot gestoppt, in dem man 1,2 Tonnen Cannabis mit einem geschätzten Marktwert von zwölf Millionen Euro fand.

2006 verhängte Albanien unter dem demokratischen Ministerpräsidenten Sali Berisha ein Verbot für private Schnellboote. Die Regierung nahm damit die Schlepper und Drogenhändler ins Visier – in dem Versuch, die EU zu überzeugen, die Visabestimmungen für Albaner zu lockern. Kurz vor der Parlamentswahl, bei der Berisha seinem Kontrahenten Rama unterlag, lief das Moratorium aus und ist seitdem nicht mehr erneuert worden.

Italiens Polizei hilft

In Ermangelung eines eigenen Überwachungssystems traf Albanien im August 2012 mit Italien eine Vereinbarung, der zufolge die italienische Polizei Luftaufnahmen von Gebieten macht, in denen Cannabis angebaut wird. Die Bilder werden an die Universität von Neapel geschickt, wo Experten die Anzahl der Cannabispflanzen ermitteln. Laut Angaben der Guardia di Finanza wurden 2014 auf Überwachungsflügen 815 Plantagen mit geschätzten 165.000 Cannabispflanzen identifiziert. 2015 entdeckte man 1200 Plantagen mit ungefähr 243.000 Pflanzen.

"Wenn die Polizei mehr Pflanzen zerstört, vergrößern sie (die Bauern, Anm.) nur die Anbaufläche", meint der renommierte albanische Kriminalreporter Artan Hoxha. Hoxha hat jahrelang über die Drogenkriminalität in Albanien berichtet. 2015 erhielt er eine Todesdrohung via SMS von einer in Holland registrierten Telefonnummer.

Der Journalist sagt, die albanische Polizei verfüge weder über die nötige Größe noch die Ausrüstung, um im ganzen Land operieren zu können. Diejenigen, die verhaftet werden, seien zumeist "unorganisierte Einzelpersonen oder arme Dorfbewohner. Ein Großteil der Plantagen bleibt bestehen."

Besorgniserregend

Dem EU-Fortschrittsbericht 2015 zufolge ist das Niveau der Ausrüstung und Logistik der Polizei tatsächlich besorgniserregend. Die Polizei mache "wenig Gebrauch" von strategischen Werkzeugen zur Informationsbeschaffung, die ihr aufgrund einer operativen Vereinbarung mit Europol, der Strafverfolgungsbehörde der EU, zur Verfügung stehen. Zudem gebe es kein umfassendes Konzept für Ermittlungen und Strafverfolgung.

Die albanische Staatspolizei verfügt bei einer Bevölkerung von etwa 2,7 Millionen Menschen über rund 10.000 Beamte, die durchschnittlich etwa 350 Euro im Monat verdienen. Der Durchschnittslohn in Albanien ist nur geringfügig höher und liegt bei 370 Euro im Monat. Nahezu jede fünfte Person im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos, die Landwirtschaft ist der größte Arbeitgeber.

Schmuggler haben daher kaum Schwierigkeiten, Willige für den Anbau von Cannabis zu finden. Gleiches gilt für Polizeibeamte, die bereit sind, ein Auge zuzudrücken.

In den Bergen über Shkodra formulierte es Gjergji so: "Die Käufer haben das Geld, wir haben den Stoff. So einfach ist das", meinte er. "Ein Kilo Cannabis lässt sich um 800 bis 1000 Euro verkaufen. Sie verstehen also, wie wichtig das ist. Wir wollen leben, und wir brauchen Geld. Nicht jeder von uns wird davonkommen, aber ich hoffe, ich schaffe es." (Elvis Nabolli, 24.6.2017)