Besuch von Superman als Taucher (Raphael Clamer, li.): Die Teilnehmer der neuesten Christoph-Marthaler-Expedition hat es diesmal tief unter die Oberfläche des Bodensees verschlagen.

Foto: Thomas Aurin

So tief unten ist das sangesfreudige Theater des Schweizers Christoph Marthaler noch nie gewesen. "Tiefer Schweb" nennt sich der kaum auszumessende Tiefpunkt des heimischen Bodensees. 243 Meter soll der Abstand zwischen Grund und Oberfläche betragen. Hier, irgendwo in dem Dreiländereck zwischen Konstanz, Bregenz und Rorschach, hat Marthaler ein ebenso ergötzliches wie absurdes Unterwasserlabor eingerichtet.

Die Paneele laufen in die komplett holzverschalte Decke über (Bühne: Duri Bischoff). In den Münchner Kammerspielen ist die Erinnerung an das Binnenmeer ein willkommener Anlass, treue Premierenabonnenten mit der Neuausrichtung ihrer Lieblingsbühne zu versöhnen. Marthalers entschleunigendes Theater soll als Lockangebot die Kundschaft zu mehr Wagemut verführen. Matthias Lilienthals Ära ist noch keine zwei Spielzeiten alt, schon wirft man dem aus Berlin gebürtigen Intendanten mutwillige Sachbeschädigung vor. Es würde zu wenig Theater gespielt in der Maximilianstraße. Stattdessen gäben Postdramatiker und Sozialprojektleiter den Ton an.

Schwer zu sagen, welcher Grundton in der "Klausurdruckkammer 55b" herrscht. Ihr Ambiente jedenfalls würde jedem Jagdverein Ehre einlegen, und das Thema Jagdrevier ragt unschön in die von Malte Ubenauf mitgestaltete Collage herein. Ein "Auffangbecken" soll das Binnenmeer sein. Auf neun umgewidmeten Ausflugsdampfern harren Flüchtlinge aus und warten auf ihre "amtliche Registrierung". Die Vereinigte Bodenseeverwaltung tut, was in solchen Fällen wahre Wunder wirkt. Sie schiebt die ganze Angelegenheit auf die lange Bank.

Stumme, nutzlose Tätigkeiten

Ein Ausschuss ist zusammengetreten. Seine Mitglieder tun, was Marthaler-Schauspieler von allen Fortschrittsverweigerern am besten können: Sie echauffieren sich ganz unangemessen. Sie verstricken sich in stumme, nutzlose Tätigkeiten, oder sie stimmen gemeinsam wundermilde Gesänge an, nur um das Chaos in den subalternen Seelen zu bändigen.

Es hilft wenig, einen von Marthaler gebildeten Ausschuss danach zu fragen, was er für die Allgemeinheit leistet. Auf dem Gremium lastet ohnehin genug Druck. Der große Vorsitzende (Kammerspiele-Urgestein Walter Hess) legt mit schnarrendem Organ die Tagungspunkte fest. Die Kolleginnen und Kollegen lassen dazu stimmlich ein paar Blasen blubbern, oder zwei Damen im Anzug verstricken sich in besonders fruchtlose Verfahrensfragen (Olivia Grigolli, Annette Paulmann). Gelegentlich fängt die Kapsel am Binnenmeeresgrund zu ächzen an. Die Backen schwellen an, die Augen treten aus den Höhlen, da helfen ein paar beherzte Drehbewegungen am Druckventil. Schon herrschen unter Wasser wieder die Gesetze von stiller Geschäftigkeit und Manie.

Ein Kachelofen entpuppt sich als regelrechte Druckausgleichskammer. Versetzt man obendrein die Wand, wird der Blick frei auf Trinkwasserkanister. Deren Inhalte verkostet man wie ein paar Jahrgänge guten Weines. Schlimm ist es auch um die Hygiene bestellt: Pissoirbecken bringen sich die Herren der Schöpfung selbst mit. Die Porzellanungetüme eignen sich hervorragend als schallverstärkender Kopfputz, dazu lässt es sich beim Harnlassen trefflich über Heidegger-Begriffe streiten. (Das Nichtvorhandensein von Damentoiletten wird von den Betroffenen scharf moniert.)

Sag es mit Schikaneder

Auch ein mittelprächtiger Marthaler wie Tiefer Schweb wiegt natürlich einen ganzen Jahrgang postdramatischen Theaters auf. Das (kleinere) Manko des Abends besteht in der eher pflichtschuldigen Bemühung politischer Geistesgegenwart. So, wenn "Tamino aus Illyrien" (Hassan Akkouch) erst brav seinen Emanuel-Schikaneder-Text aufsagt, um anschließend seine Ambitionen auf das Bayerntum schuhplattelnd (und mit dem Aufsagen eines Weißwurstrezepts) zu untermauern.

Die verwendeten Zitate von Kafka oder Derrida bleiben eigentümlich blass. Und auch die amokähnlichen Passagen entfalten nicht recht Wirkung. Auch dann nicht, wenn Holzlatten an der elektrischen Hobelbank zerkleinert und anschließend an die Wand genagelt werden, um Stacheldraht zu spannen.

Natürlich dient die fiktive Einrichtung eines "Sicherheitsrates" am Bodensee bloß der Abwehr potenzieller Migranten. Zu großer Form läuft Marthalers Theater des (quälenden) Daheimbleibens immer dann auf, wenn die Vorläufigkeit jeder Form von Verwurzelung angezeigt wird. Dann singt der unfassbar großartige Ueli Jäggi eben Procol Harums A Whiter Shade of Pale zum Sound dreier (!) Hammondorgeln. Und die Vergiftung des Bodensees mit Bakterienstämmen hat erst einmal Pause. Auch wenn eine Tröpfcheninfektion das schöne Dreiländereck lahmzulegen droht. Verdienter Jubel für Marthaler, den verschmitzten Mentalitätsforscher, und seine famosen Akteure. (Ronald Pohl, 25.6.2017)

Münchner Kammerspiele