Mit einer Kinderschauspielerin im Brautkleid machte Amnesty International im Oktober 2016 in Rom auf die Problematik von Kinderehen aufmerksam.

Foto: APA/AFP/GABRIEL BOUYS

STANDARD: Für das US-Außenministerium ist der Kampf gegen die Ehe Minderjähriger eine Schlüsselstrategie zur Stärkung von Frauen weltweit. Doch wie sieht es innerhalb der USA aus?

Reiss: Im selben Dokument bezeichnet das Außenministerium die Ehe unter 18 Jahren zudem als Menschenrechtsverletzung. Gleichzeitig ist diese Menschenrechtsverletzung in allen 50 Staaten der USA legal. Auch in Texas und New York, die vor kurzem eine neue Gesetzgebung zu Kinderehen eingeführt haben. Überall gibt es Ausnahmen, die eine Ehe von Minderjährigen erlauben.

STANDARD: Welche Ausnahmen wären das im Fall von Texas und New York?

Reiss: New York hat das Mindestalter auf 17 Jahre hinaufgesetzt, doch das betrifft immer noch Kinder. Fast alle Betroffenen sind Mädchen. Diese können in Ehen gezwungen werden, aber gleichzeitig keine rechtlichen Schritte setzen, um sich selbst zu schützen. Es ist gut, dass New York irgendetwas getan hat, um die Ehe von Kindern zu beenden, aber es ist enttäuschend, dass noch immer 17-Jährige heiraten dürfen.

In Texas gibt es noch immer eine Ausnahme für mündige Minderjährige. Dadurch könnten Kindern für mündig erklärt werden, damit sie verheiratet werden können. Wir kennen alle die furchtbaren Konsequenzen von Kinderehen, und seltsamerweise verschwinden die Bedenken, sobald ein Kind mündig wird. Doch es bleibt eine Menschenrechtsverletzung.

STANDARD: Sie haben die Hilfsorganisation "Unchained At Last" gegründet, die unter anderem für das Ende von Kinderehen kämpft. Woher kam Ihr Engagement?

Reiss: Ich habe die NGO aus meiner eigenen traumatischen Vergangenheit heraus gegründet. Ich wurde mit 19 Jahren zwangsverheiratet und war 15 Jahre in einer gewalttätigen Ehe gefangen. Als ich mit meinen zwei Töchtern flüchten konnte, hat mich meine Familie geächtet und für tot erklärt.

Das Ziel von "Unchained At Last" ist es, Mädchen und Frauen zu helfen, aus Zwangsehen auszubrechen. Außerdem wollen wir Lobbyarbeit betreiben, um die Gesetze im Zusammenhang mit Zwangsehen zu ändern. Doch immer mehr Mädchen unter 18 Jahren haben angerufen und wollten unsere Hilfe. Dabei haben wir festgestellt, dass es fast keinen Weg gibt, wie wir ihnen helfen können. Ich habe das Gefühl, dass ich bei diesen Mädchen versagt habe.

STANDARD: Was können Sie tun, wenn ein minderjähriges Mädchen bei Ihnen anruft und um Hilfe bittet?

Reiss: Leider können wir in manchen Fällen gar nichts tun. Wir müssen wirklich kreativ sein. Wenn es ein vertrauenswürdiges Familienmitglied oder einen Freund gibt, dann organisieren wir einen Anwalt, der um die Erziehungsberechtigung kämpft. Wenn aber kein dokumentierter Missbrauch vorliegt, ist es schwierig, einen Richter davon zu überzeugen, dass dieses Kind bei jemand anderem leben sollte. Manchmal können wir einem Mädchen helfen, die Hochzeit so lange zu verzögern, bis es volljährig ist. In den USA gibt es ein paar Unterkünfte, die sich bereiterklärt haben, Minderjährige aufzunehmen. Dabei riskieren wir viel, weil wir wegen Entführung belangt werden können.

STANDARD: Sie haben schon einmal in Interviews mit den Medien gesagt, dass Sie zu Beginn Ihrer Arbeit dachten, dass es einfach sei, die Gesetzgebung zu ändern. Wie sah schlussendlich die Realität aus?

Reiss: Es war fast absurd schwierig. Ich dachte wirklich, dass die Leute einfach nicht wissen, dass es so etwas gibt. Ich dachte, dass wir sie nur darauf aufmerksam machen müssten, und die Gesetzgeber würden sofort aufspringen und die Gesetze ändern. Stattdessen erfahren wir so viel Zurückweisung.

Es ist enttäuschend, dass wir bis dato in elf Staaten Gesetze auf den Weg bringen konnten, aber alle zurückgewiesen wurden. Entweder es war von Beginn an ein schwaches Gesetz, oder es wurde im Endeffekt stark abgeschwächt, oder starke Gesetze wurden abgelehnt. Zum Beispiel hatte in New Jersey ein Gesetz gegen Kinderehen bereits beide Kammern passiert, und schlussendlich legte Gouverneur Chris Christie sein Veto ein, weil er der Ansicht ist, dass 16- und 17-Jährige noch immer heiraten dürfen sollen.

STANDARD: Welche Gründe geben die Politiker dafür an, dass sie die Gesetze nicht ändern wollen?

Reiss: Viele bestehen darauf, dass ein schwangeres Mädchen heiraten muss. Dass das die einzige Möglichkeit sei und man nicht warten könne, bis sie 18 Jahre alt sei. Das geschieht, obwohl wir wissen, dass solche Gründe dafür genutzt werden, dass Minderjährige ihren Vergewaltiger heiraten müssen. Der Gouverneur von New Jersey hat angeführt, dass das Ende der Kinderehen mit religiösen Traditionen kollidieren würde. Ich weiß nicht, was er damit meint. Ich kenne keine Religion, die Kinderehen voraussetzt. Selbst wenn wir diese finden, ist es noch immer verfassungsgemäß, Gesetze zu beschließen, die so etwas verbieten, solange Religionen nicht direkt attackiert werden.

STANDARD: Als Sie begonnen haben, die Fakten zu Kinderehen zu sammeln, hat Sie da irgendetwas überrascht?

Reiss: Obwohl ich die Anrufe der Mädchen erhalten habe und in einer Gemeinschaft aufgewachsen bin, in der so etwas passiert ist, war ich schockiert. Zum einen darüber, dass es in allen Staaten legal, ist und zum anderen war ich von den Daten schockiert. In 38 Staaten wurden in den Jahren von 2000 bis 2010 rund 167.000 Kinder verheiratet, wobei die jüngsten Betroffenen zwölf Jahre alt waren. Fast alle waren Mädchen, die erwachsene Männer geheiratet haben. Das Faktum, dass die anderen zwölf Staaten nicht einmal das Alter registrieren, war ebenso schockierend.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, verheiratet zu werden, und welche legalen Möglichkeiten haben sie, um sich selbst zu helfen?

Reiss: Die legalen Möglichkeiten existieren fast nicht. Wenn sie ihr Zuhause verlassen, gelten sie als Ausbrecher. Unterkünfte werden sie nicht aufnehmen. Wir können als Entführer belangt werden, wenn wir ihnen helfen. Verträge mit Kindern sind anfechtbar. Das heißt, dass sie nur schwer einen Anwalt bekommen können. Normalerweise können sie nicht in ihrem Namen gerichtlich vorgehen. Das bedeutet, dass sie keine Scheidung einreichen können oder eine einstweilige Verfügung erwirken können.

Dabei wissen wir, dass es verheerende lebenslange Auswirkungen hat, wenn Kinder vor dem 18. Geburtstag heiraten. Eine Frau, die davor heiratet, hat ein 23 Prozent höheres Risiko, eine Herzattacke zur erleiden oder an Krebs und Diabetes zu erkranken. Außerdem besteht ein höheres Risiko einer psychiatrischen Erkrankung. Auch die Ausbildung der Betroffenen wird in Mitleidenschaft gezogen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine minderjährige Braut nicht die Highschool abschließt, ist um 50 Prozent höher, und viermal so unwahrscheinlich ist es für sie, ein College abzuschließen. Die Wahrscheinlichkeit, in Armut zu leben, ist um 31 Prozent höher. Die Studien, die das aufzeigen, behandeln die Situationen von US-Mädchen – nicht von Mädchen aus Malawi. Eine globale Studie hat gezeigt, dass eine minderjährige Braut mit dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit von ihrem Mann geschlagen wird.

STANDARD: Haben Sie eine Vorstellung, wer die Opfer sind?

Reiss: Die Bundesstaaten haben uns dazu keine Informationen gegeben. Aber wir wissen von den Mädchen und Frauen, die sich an uns wenden, dass sie alle möglichen Hintergründe haben. Wir haben Hilfesuchende aus allen Religionen, großen wie kleinen. Uns rufen Mädchen aus säkularen, aus armen oder reichen Familien an, Frauen aus Migrantenfamilien oder Frauen aus US-amerikanischen Familien.

STANDARD: Wie lange glauben Sie, dass Ihr Kampf gegen die Kinderehe noch dauern wird?

Reiss: Ich befürchte, dass ich das bis ans Ende meines Lebens machen werde. Es wird ein langer Kampf. Ich weiß nicht, wieso es so schwer ist, die Gesetzgeber zu überzeugen. Wir werden darum kämpfen. Und eineinhalb Jahre sind auch noch keine lange Zeit, wenn man 50 Gesetze ändern will. Aber ich hoffe, dass wir bald an einen Punkt gelangen, ab dem es leichter wird. (Bianca Blei, 18.6.2017)