In seinem Buch erteilt Snyder Antipopulismuslektionen.

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Auch in den 1930er-Jahren sei die Zustimmung für Alleinherrscher primär eine Reaktion auf die Globalisierung und die Folgen schwerer Wirtschaftskrisen gewesen, schreibt Snyder.


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STANDARD: Ihr neues Buch "Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand" erinnert ein wenig an die letzte Warnung vor der drohenden Apokalypse. Was fürchten Sie derzeit am meisten?

Snyder: Ich habe das Buch kurz nach Donald Trumps Wahlsieg geschrieben, und zwar als Historiker, der sich mit den dunkelsten Kapiteln der Geschichte Europas befasst. Die Idee dahinter war nicht, dass wir dem Untergang geweiht sind, sondern dass Amerikas Institutionen uns nicht automatisch retten. Menschen haben sich im Lauf der Geschichte in ähnlichen Situationen befunden und sind gescheitert. Uns steht eine kleine Zeitspanne zur Verfügung, um Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Wer Geschichte vergisst, lässt auch zu, dass sich Geschichte wiederholt.

STANDARD: Sie haben nach Trumps Amtseinführung auch gewarnt, es bleibe nur etwa ein Jahr Zeit, um die Demokratie in den USA zu retten. Wo stehen wir nun?

Snyder: Die erste Lektion meines Buches lautet, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten. Man sollte, selbst wenn noch unklar ist, wie der Widerstand aussehen wird, zumindest einmal die Situation, in der man steckt, als anormal anerkennen, als etwas, wogegen Widerstand geleistet werden muss. Wer erst einmal abwarten möchte, arrangiert sich bereits mit der Situation. Wären die Amerikaner passiv geblieben, hätten sie nicht demonstriert, und hätten Juristen nicht das Einwanderungsdekret gestoppt, dann wäre die Situation heute wesentlich schlimmer.

STANDARD: Bürger haben die Institutionen zu schützen, nicht Institutionen die Bürger, schreiben Sie. Das passiert also derzeit?

Snyder: Diese Teile des politischen Systems sind keine Maschinen, die eigenständig funktionieren. Wenn es keinen Protest dagegen, keine Medienberichte darüber geben würde, dass bei den Wahlen 2016 etwas gründlich schiefgelaufen ist, dann täten sich das FBI und das Justizministerium mit ihren Entscheidungen bezüglich der Russland-Ermittlungen schwerer. Die politische Atmosphäre ist wichtig, um Widerstand zu ermöglichen – das geht von der Zivilgesellschaft aus.

STANDARD: Sie haben in einem vielbeachteten "Slate"-Artikel die derzeitige Lage in den USA mit jener in Deutschland in den 1930ern verglichen. Wo sehen Sie die größten Parallelen?

Snyder: Das Gefährlichste an Trump und der Bereich, in dem ich die meisten Parallelen sehe, ist seine völlige Missachtung der Realität. Seine Wahlkampfreden haben alle Tricks beinhaltet, die die Faschisten der 1920er- und 1930er-Jahre benützt haben: das permanente Wiederholen von Slogans, das Inszenieren als Stimme des Volkes, das Umwandeln von politischen Veranstaltungen zu einem unterhaltenden Spektakel, aus dem unliebsame Gäste hinausgeworfen werden. Auch die Art, wie Trump mit Globalisierung umgeht, erinnert daran: als wäre sie kein Prozess, sondern eine Person, der man Schuld zuschieben kann – Mexikanern, Chinesen, Juden. Die USA sind kein faschistischer Staat, Trump ist auch kein Faschist, aber einige Aspekte erinnern an die 1930er-Jahre. Bezüge dazu stellt auch die Trump-Regierung selbst her, allen voran Chefstratege Stephen Bannon.

STANDARD: Gleichzeitig attestieren Sie Trump etwas radikal Neues.

Snyder: Trump ist charakteristisch für den Autoritarismus des 21. Jahrhunderts. Ebenso wie Wladimir Putin liegt ihm nichts an Fakten, nur am Schaffen eines Mythos, einer Nostalgie für eine vage Welt, die er in der Vergangenheit sieht. Das Einzige, was er hinsichtlich einer Vision für die Zukunft anzubieten hat, ist rückwärtsgewandt: Er will Kohle verbrennen, eine Industrie aufbauen, die sich nicht mehr aufbauen lässt, und er lässt Menschen sterben, wenn er ihnen die Gesundheitsversorgung wegnimmt.

STANDARD: Weder in diesem Artikel noch in Ihrem Buch nennen Sie Trump beim Namen. Warum?

Snyder: Damit es keine Analyse seiner Persönlichkeit wird. Trump wird als Narzisst bezeichnet, was er auch ist, oder als Soziopath, was ich ebenso für wahrscheinlich halte. Aber das ist letztlich nicht der Punkt. Wer nur das Problem charakterisiert, löst es nicht. Narzissten gibt es viele, Trump aber ist der Präsident der Vereinigten Staaten. Er zeigt sich beratungsresistent, realistischerweise werden wir ihn nicht beeinflussen oder verändern können. Also müssen wir das System, das ihn umgibt, stärken.

Timothy Snyder bei der Präsentation seines Buchs in Wien.
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STANDARD: Neben den USA haben Sie auch Frankreich als Beispiel einer Protodemokratie genannt, die auf der Kippe steht. Hat sich die Gefahr nach dem Sieg Emmanuel Macrons gemindert?

Snyder: Wir betrachten Wahlen wie Sportevents, wir blicken immer nur dann auf ein Land, wenn Wahlen stattfinden. Das war in Frankreich genauso wie in den USA. Hätte Hillary Clinton gewonnen, würden wir heute über ein ganz anderes Land sprechen. Dasselbe gilt für Frankreich, hätte Marine Le Pen gewonnen. Die Probleme aber bleiben dieselben. Frankreich und die gesamte EU haben weiterhin große Probleme. Macron setzt zwar einer Entwicklung vorläufig ein Ende, ohne aber eine neue Entwicklung in Gang zu setzen. Es ist ermutigend, dass Macron anerkennt, dass die EU eine Art Neuerfindung braucht. Wenn die bösen Leute ständig darüber sprechen, dass die Vergangenheit besser ist, braucht es gute Leute, die sagen, dass ihre Vision für die Zukunft besser ist. Europa muss das in Zukunft allerdings ohne Hilfe der USA hinbekommen, denn wir werden in nächster Zeit schwierig und anstrengend sein.

STANDARD: Apropos Vergleich: Mit welcher historischen Epoche würden Sie die Zeit, in der Europa derzeit steckt, vergleichen?

Snyder: Es lässt sich natürlich nicht alles vergleichen, bestimmte Sachen aber schon. Vergleichen könnte man die jetzige Zeit mit der Periode um 1900, als Populisten wie Karl Lueger Themen der Linken und der Rechten zusammengebracht haben. Da gab es auch durchaus charismatische Politiker, die vorgaben, Menschen beschützen zu wollen, wobei sie damit nur eine bestimmte Gruppe von Leuten meinten. Oder auch mit den 1940ern und 1950ern, dem Anfang der europäischen Integration. Damals stand wie auch heute die Frage im Raum, ob etwas Neues entsteht oder alles zerfällt. Auch heute ist alles in Bewegung.

STANDARD: Sie bezeichnen Deutschland als Vorbild. Warum?

Snyder: Deutschland ist nicht perfekt, wenn man sich etwa die Sparpolitik ansieht, die das Land dem Rest Europas aufgedrückt hat. Deutschland hat sich nach der totalen Niederlage im selbst angezettelten blutigen Zweiten Weltkrieg in kurzer Zeit zur erfolgreichsten, florierendsten, großen Demokratie unserer Zeit entwickelt. Angela Merkel denkt außerdem in historischen Dimensionen, sie verfügt über ein Geschichtsbewusstsein und auch eine Aufgabe. Wie Helmut Kohl ist sie der Meinung, dass Deutschland nur als Teil Europas groß sein kann.

STANDARD: Sie kritisieren generell ein mangelndes Geschichtsbewusstsein.

Snyder: Selbst in Spanien oder Portugal oder Polen und Ungarn sind sich ganze Generationen nicht mehr bewusst, wie jung ihre Demokratien eigentlich sind. Nach 1989 wurde die Entscheidung getroffen, dass Geschichte keine Rolle mehr spielen soll, indem einfach angenommen wurde, dass sich Kapitalismus und Demokratien immer nur in eine Richtung entwickeln und dass am Ende immer eine liberale Demokratie stehen muss. Dadurch, dass wir erst gar keine andere Möglichkeit gesehen, keine davon abweichende Entwicklung für möglich gehalten haben, haben wir die Rückkehr von Autoritarismus möglich gemacht. Wir haben die Gefahr nicht gesehen, dass unser Narrativ in Gefahr ist.

STANDARD: Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

Snyder: Ich habe Hoffnung. Die wichtigste Botschaft meines Buches ist, dass es oft Momente in der Geschichte gab, deren Ausgang offen war. Manchmal ist dieser Moment noch offener als sonst. Jetzt ist so ein Moment. Deshalb müssen die Menschen die Dinge in die Hand nehmen. (Anna Giulia Fink, 27.6.2017)