Ein Näher in einer Kleiderfabrik in Colombo: Sri Lanka hat seit Mai ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. Im Vergleich zu Ceta und TTIP war der Aufschrei dagegen relativ leise.

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Was bedeutet Freihandel genau? Je mehr Handel, desto besser? Der aktuelle Verhandlungswahn der EU-Kommission – 46 bilaterale und plurilaterale Verträge – deutet darauf hin. Im Lissabon-Vertrag heißt es, die EU "trägt zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen bei". Keine Abwägungen, Relativierungen oder Priorisierungen. Wenn der Abbau von Handelsbarrieren das Ziel ist, ohne dass verbindliche Menschenrechts-, Arbeits-, Sozial-, Verteilungs-, Steuer-, Umwelt- oder Klimaziele zur Voraussetzung gemacht werden, mutiert Handel zum Selbstzweck.

Der Begriff Protektionismus teilt mit Freihandel das Fehlen einer Definition. Ein "-ismus" macht das, was voransteht, zum höchsten Wert und Ziel, zum Selbstzweck. Protektion bedeutet schlicht "Schutz". Wir schützen alles Mögliche: von Kindern und Minderheiten über private Daten bis hin zu Grenzen: intime, rechtliche, territoriale – alles im grünen Bereich. Pathologisch wäre, dass der Schutz nicht einem würdigen Schutzziel dient, sondern Selbstzweck würde. Auf die Handelspolitik gemünzt, dass Schutzmaßnahmen nicht der lokalen Wirtschaft, den Menschenrechten oder dem Klima dienen, sondern dass höhere Barrieren für den Handel immer besser sind. Das Ziel von "Protektionisten" ist erreicht, wenn die Grenzen dicht sind: kein Handel, Globalisierungsgrad null, nationale Autarkie. Obwohl ich niemanden auf der Welt kenne, der dafür eintritt, wird den Kritikern des Freihandels genau das unterstellt: "Protektionistmus". Das klingt ebenso unattraktiv, wie Freihandel attraktiv klingt. Ist das vielleicht das Ziel der handelspolitischen Diskussion: ein Extrem attraktiver dastehen zu lassen als das andere?

Paradoxerweise gibt es in der Wirtschaftsgeschichte kein einziges Beispiel für ein Land, das mit "Freihandel" wohlhabend geworden ist. Im Gegenteil, die heutigen Handelsmächte haben Industrien konsequent vor globalem Wettbewerb geschützt. Die USA hielten ihre Einfuhrzölle bis Mitte des 20. Jahrhunderts nahezu konstant um die 40 Prozent. Der Historiker Paul Bairoch bezeichnete die USA als "Mutterland des Protektionismus". Vorbild für sie, aber auch für Deutschland und seinen Zollverein, stand Großbritannien: die "Großmutter des Protektionismus". Heute fordern reiche Länder von den Armen, die auf ähnlichem Niveau stehen wie die Industrieländer damals, "Freihandel" – und machen ihn zur Bedingung für Kredite und "Wirtschaftspartnerschaften". Die Frage ist also nicht, ob geschützt werden darf, sondern wer entscheidet, was wann schützen darf.

Bei genauerer Betrachtung schützt jedes Gesetz etwas. Den Kampf gewinnt, wem es gelingt, die Schutzpolitik des anderen als "Protektionismus" zu delegitimieren und die eigenen Schutzmaßnahmen als Gewinn für die Freiheit darzustellen.

Dass sich die Durchsetzung von Freihandel nicht nach Freiheit anfühlt, hat Thomas Friedman in seinem Buch "The Lexus and the Olive Tree" trefflich geschildert. Er berichtet von einem Besuch in Indonesien, das gerade ein Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds zu verdauen hatte. Zur bekannten Rezeptur zählten Privatisierungen, Sozialabbau, Niedriglöhne und eben "Freihandel". Ein Wirtschaftsberater des Präsidenten meinte, das Paket fühle sich an wie eine "Zwangsjacke". Friedman konterte, es handle sich um eine "goldene Zwangsjacke", die Indonesien zwar schmerzen, aber reicher machen werde. Damit ist eine tiefe Wahrheit über "Freihandel" angerührt. Länder, die sich zu Freihandel verpflichten, verlieren eine lange Liste von Freiheiten, nicht nur die Selbstbestimmung darüber, wie offen sie sein wollen. Sie gehen einer autonomen Struktur-, Arbeitsmarkt-, Technologie- und Industriepolitik verlustig; sie verlieren die Freiheit, regionale Kreisläufe zu fördern, öffentliche Ausschreibungen nach eigenem Ermessen zu gestalten, Investitionen zu regulieren oder neue öffentliche Dienstleistungen zu definieren. Sie verpflichten sich zur "gegenseitigen Anerkennung" von (niedrigeren) Standards oder verweisen auf den Zwang des Standortwettbewerbs, wenn sie Löhne, Steuern, Sozial- und Umweltstandards einfrieren oder senken.

Eine häufige Rechtfertigung der Freihändler lautet, dass das "right to regulate" unberührt bliebe. Unerwähnt bleiben – verbindliche – Vertragsbestimmungen, wonach demokratische Regulierungen "nötig", "angemessen", "fair", "wissenschaftlich begründbar" oder "objektiv" (!) sein müssen (Zitate aus Ceta). Sind sie das nicht, können sie sowohl von Staaten als auch Unternehmen vor globalen Gerichten geklagt werden. Diese abschreckende Wirkung bei neuen Gesetzen heißt "regulatory chill". Die "Stand still"-Klausel macht Lernen aus Liberalisierungsfehlern unmöglich, die "Sperrklinke" verbietet, Liberalisierungen, die über das vertraglich verpflichtende Niveau hinausgehen, zurückzunehmen. Die "regulatorische Zusammenarbeit" wiederum, ebenfalls Bestandteil von Ceta und TTIP, sorgt dafür, dass neue Regulierungen vom Gemeinderatsbeschluss bis zur EU-Richtlinie den reibungslosen Handel nicht "unnötig" stören. Die Prüfbrille, welche die zukünftigen Beamten transatlantischer Bürokratien aufsetzen werden, ist nicht die Menschenrechts-, Gender-Mainstreaming- oder Gemeinwohlbrille, sondern die "Handel-Schutzbrille".

Während Menschen nicht gegen die Verletzung ihrer Rechte durch Investoren vor einem globalen Gericht klagen können, können transnationale Unternehmen auf die Verletzung ihres Eigentumsrechts klagen. Diese Schutzpolitik wäre allenfalls vertretbar, wenn es um direkte Enteignung ginge. Doch es geht zunehmend um "indirekte Enteignung" – Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der Verbraucher oder Arbeitnehmer -, wodurch die Protektion hier tatsächlich zum "Protektionismus" wird: für Global Player.

Klagerecht für Investoren

Analog zum Klagerecht juristischer Personen gegen indirekte Enteignung im Ausland ("Freihandel") müssten natürliche Personen gegen die indirekte Verletzung ihrer Menschenrechte klagen können. Dann könnten nicht nur Auftragsmorde gegen Gewerkschafter oder Umweltschützer vor einen globalen Menschenrechtsgerichtshof gebracht werden, sondern auch "unangemessene Bezahlung", "unfaire Arbeitsbedingungen" oder "nicht objektive Information von Konsumenten". Das Aufheulen der Protektionisten ist jetzt schon zu hören.

Zum Protektionismus des Kapitals zählen weiters: Nichtbindung der Handels- und Investitionsfreiheit an internationale Steuerpflichten, Bail-out mit Steuergeld, Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten, Fehlen einer globalen Fusionskontrolle, keine Offenlegungspflicht für Beteiligungen, Nichtverpflichtung der Eintragung ins EU-Lobbyregister, Nichtvorhandensein eines WTO-Lobby-Registers. In Summe ist die gegenwärtige Handelsordnung ein juristisch brillant getarnter Protektionismus – für die falschen Ziele. Vandana Shiva hat recht, wenn sie meint, dass "Freihandel der Protektionismus der Mächtigen" sei. (Christian Felber, 27.6.2017)